BERLIN. Das Recht auf gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen wird in Deutschland unzureichend umgesetzt, beklagen Wissenschaftler des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Die meisten Bundesländer wälzten die Verantwortung auf die Eltern ab.
Sebastian Steinmetz, Michael Wrase, Marcel Helbig und Ina Döttinger zeichnen ein dunkles Bild: Eine Reihe von Bundesländern verletzt systematisch die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zur Schaffung eines inklusiven Bildungssystems, so die Wissenschaftler des Wissenschaftszentrums Berlins für Sozialforschung (WZB) in einer aktuellen Studie. Während Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein bei der Umsetzung der Inklusion in den Schulen deutlich vorangekommen seien, fände diese in den meisten anderen Bundesländern nur unzureichend statt. Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz seien weitgehend untätig geblieben oder verzeichnen seit Geltung der UN-Konvention 2009 sogar Rückschritte.
Für die Studie wertete das Forschungsteam relevante Vorschriften und Umsetzungsmaßnahmen sowie verfügbare Daten über den gemeinsamen Unterricht in den Bundesländern aus. Aus Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention leiteten die Wissenschaftler vier zentrale Anforderungen ab, die für die Erfüllung des Rechts auf inklusive Bildung gegeben sein müssten und untersuchten deren Umsetzung in den 16 Bundesländern.
Verfügbarkeit inklusiver Bildung
Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen haben Anspruch, in einer nahe gelegenen Schule gemeinsam mit Schülern ohne Behinderung unterrichtet zu werden. In der Mehrheit der Bundesländer unterrichteten zwar bereits die überwiegende Zahl aller Schulen Kinder mit Förderbedarf. Weit unterdurchschnittliche Quoten von inklusiv arbeitenden Schulen finden sich aber in Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz. Inklusive Bildung ist laut der Studie in diesen Bundesländern nicht flächendeckend verfügbar.
Diskriminierungsfreier Zugang zu inklusiven Schulen
Zentral fordert die UN-Konvention einen gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zum allgemeinen Bildungssystem. Ein vorbehaltloser Zugang zu inklusiver Bildung für Kinder mit Förderbedarf wird gegenwärtig jedoch nur in Bremen und Hamburg gewährleistet, konstatieren die Forscher. Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt erfüllten diesen Anspruch nicht. In diesen Ländern gebe es auch mehr als zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-Konvention keinen klaren Vorrang der gemeinsamen Beschulung. Die Mehrheit der Bundesländer schreibe zwar einen Vorrang des gemeinsamen Unterrichts im Schulgesetz fest, schränke diesen aber durch einen Ressourcenvorbehalt oder sonstige Vorbehalte ein.
Angemessenheit des Schulangebots
Die Ressourcenausstattung für den gemeinsamen Unterricht zeigte sich in vielen Bundesländern mangelhaft. In einer Reihe von Ländern (Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Saarland) ist die Finanzierung inklusiver Beschulung der Untersuchung zufolge nicht ausreichend im Schulrecht konkretisiert. Für die einzelnen Förderschwerpunkte fehlten konkrete Richtwerte, an denen sich die Zuweisung sonderpädagogischer Förderung zu orientieren hat. Aus diesem Grund könne nur schwer bewertet werden, ob in der Praxis ausreichende pädagogische Unterstützung im inklusiven Lernumfeld vorhanden ist. Allerdings wiesen Daten aus mehreren Bundesländern auf eine systematische Unterausstattung der allgemeinen Schulen gegenüber Förderschulen hin.
Anpassungsfähigkeit des Schulsystems
Eine tatsächliche Transformation bestehender Förderschulsysteme in inklusive Regelschulangebote beobachtete das Forschungsteam bislang nur in Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Die anderen elf Länder stellen das im internationalen Vergleich weit ausgebaute Förderschulsystem (bisher) nicht zur Disposition. Gerechtfertigt wird dieses Vorgehen durch einen Verweis auf das „Elternwahlrecht“: Solange Erziehungsberechtigte die Förderschule für ihr Kind wählen, sollen Sonderstrukturen weiterexistieren. Damit wird eine zentrale Steuerungsleistung für das Gelingen der schulischen Inklusion formal auf die Erziehungsberechtigten abgewälzt. Diese „passive Steuerung“ ist aber mit der schrittweisen Implementierung der UN-Konvention unvereinbar, stellt Michael Wrase fest. Außerdem gebe es bei der Ausübung des Elternwahlrechts wahrscheinlich eine starke soziale Schieflage, vermutet der WZB-Jurist. Kinder aus sozial benachteiligten oder migrantischen Elternhäusern sind an Förderschulen weit überproportional vertreten.
Solange die Politik nicht die notwendigen Voraussetzungen an den Schulen schafft, kann Inklusion nicht gelingen“, resümiert Studienautor Sebastian Steinmetz. „Das Versäumnis liegt bei der Politik und kann nicht am gemeinsamen Unterricht festgemacht werden, der in vielen anderen Staaten ja schon heute die Regel ist.“
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