BERLIN. Obwohl Bildung Ländersache ist, widmen sich alle Parteien im Wahlkampf den Kitas, Schulen und Hochschulen mehr oder weniger explizit. Was sagen die Programme? Was lassen sie vermissen? Den Anfang unserer Analyse machen Bündnis 90/Die Grünen. Ihnen ist die Bildungspolitik in ihrem insgesamt 272-seitigen Wahlprogramm ein 18 Seiten umfassendes Kapitel wert, mehr als jeder anderen Bundestagspartei. Vieles darin ist zwar unkonkret. Manche Punkte lassen aber aufhorchen. So sollen Ressourcen umverteilt werden – hin zu den Kitas und Grundschulen. Die Kollegien sollen multiprofessionell werden. Und die Digitalisierung der Schulen ist für die Grünen offenbar ein großer bunter Experimentierkasten: samt „quelloffener“ Software-Lösungen und „game-based Learning“.

Bei einer Partei, die als Umweltbewegung gestartet ist, spielt das Thema Klimawandel naturgemäß auch in der Bildung eine wichtige Rolle. „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sowie die klassische Umweltbildung sind der Schlüssel zur notwendigen gesellschaftlichen Transformation. Sie befähigt Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln, zur Gestaltung und Teilhabe an einer demokratischen und pluralen Gesellschaft sowie zum Verstehen der Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt. BNE ermöglicht den Menschen, sich aktiv an der Gestaltung einer ökologisch verträglichen, wirtschaftlich leistungsfähigen und sozial gerechten Gesellschaft zu beteiligen“, so heißt es einleitend zu Kapitel 4 des Grünen-Wahlprogramms mit dem etwas irreführenden Titel „Bildung und Forschung ermöglichen“ (der klingt, als gäbe es Bildung und Forschung in Deutschland überhaupt nicht).
In der Priorität hinter BNE (weil erst danach ausgeführt): Chancengerechtigkeit. Grundsätzlich bekennen sich die Grünen zur Inklusion und zum gemeinsamen Lernen „so lange wie möglich“. Im Wortlaut: „Gleiche Lebenschancen für alle Kinder heißt, dass wir uns für gemeinsames Lernen und individuelle Förderung für alle Kinder von der KiTa (Kita und Kindertagespflege) bis zum Schulabschluss einsetzen. Die soziale Spaltung zwischen Schulen sowie KiTas möchten wir überwinden, auch durch gezielte Investitionen des Bundes, die lokal verteilt werden. Denn wir wollen KiTas und Schulen, in die Kinder und Jugendliche, aber auch Erzieher*innen und Lehrer*innen gleichermaßen gerne gehen. Und zwar egal ob auf dem Land oder in der Stadt, ob in ärmeren oder reicheren Vierteln. (…) Schulen sollen attraktive Orte sein. Dafür brauchen sie nicht nur schnelles Internet und saubere Toiletten, sondern auch zeitgemäße Raumkonzepte mit genügend Platz für vielfältige und inklusive Lernformen.“
Ein Punkt wirkt unscheinbar, hätte aber enorme Auswirkungen auf das Schulsystem: Die Grünen wollen die Finanzierung umlenken – weg von der weiterführenden Schule (wohin bislang die meisten Mittel gehen), hin zur Grundschule. „Da die Weichen am Anfang gestellt werden, müssen dorthin auch die meisten Ressourcen fließen“, so heißt es im Wahlprogramm. „Vor allem für KiTas und den Primarbereich werden wir die Investitionen deutlich erhöhen, auch um den Sanierungsstau an Schulgebäuden zu beheben.“
Apropos Personal. „Erzieher*innen und Lehrer*innen sind jederzeit systemrelevant, diese Wertschätzung sollte sich in ihrer Arbeit, ihrer Bezahlung und in der Ausstattung widerspiegeln“, so heißt es. „Multiprofessionelle Teams sollen Kindern in ihren unterschiedlichen Bedürfnissen bestmögliche Unterstützung bieten. Dafür brauchen sie gute Aus- und Weiterbildung, sichere Berufswege und einen guten Lohn.“ Und nochmal: „Wir fördern multiprofessionelle Teams, in denen sich Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Schulpsycholog*innen und weitere in der Schule oder Region tätige Fachkräfte gegenseitig ergänzen und mit unterschiedlichen Perspektiven bereichern, um die Schüler*innen und ihre Familien bestmöglich unterstützen zu können.“
„Jedes Kind hat ein Recht auf eine gute Schule, egal, wo es lebt. Der Alltag sieht aber anders aus”
Mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler stellen die Grünen fest: „Jedes Kind hat ein Recht auf eine gute Schule, egal, wo es lebt. Der Alltag sieht aber anders aus. Wir wollen dauerhafte Finanzierungswege für mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen, um Regionen oder Quartiere mit Schulen mit besonderem Unterstützungsbedarf zu stärken.“ Dazu gehöre es, systematische Vorsorgearbeit zu leisten, Lernrückstände zu schließen und deutsche wie auch muttersprachliche Sprachfertigkeiten zu fördern. „Mehrsprachigkeit sollte als Reichtum begriffen werden und nicht als Defizit.“
Auch die Mitbestimmung soll verbessert werden. Als Wunschvorstellung wird postuliert: „Alle Akteur*innen kooperieren auf Augenhöhe. So werden auch die Partizipation der Schüler*innen und die Kooperation mit Eltern verbessert und Schulen werden zu Unterstützungsorten für die ganze Familie. Wir wollen die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen nachhaltig besser schützen. Schüler*innen sollen sich wohlfühlen können und sich in der Schule sicher fühlen. Nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch auf dem Pausenhof, in den Gängen und in den sanitären Räumlichkeiten. Darum wollen wir in eine bessere Lernumgebung und höhere Bildungsqualität investieren.“ Wie viel? Keine konkrete Aussage dazu.
Ein Schwerpunkt des Bildungsprogramms: die Digitalisierung. Dabei lässt sich die Nähe der Grünen zu Open-Source-Interessengruppen erkennen. Die Partei will „Anwendungen wie quelloffene und sichere Lernplattformen oder Videokonferenzsysteme umfassend fördern“ und setzt sich dafür nach eigenem Bekunden „für die Umsetzung des Rechts auf Löschung personenbezogener Daten für Kinder ein“.
Was das in der Praxis bedeutet, lässt sich derzeit in München beobachten: Dort soll die Stadtverwaltung „bei der Beschaffung und Eigenentwicklung von neuer Software zukünftig auf Open Source-Lösungen setzen“ – obwohl die Stadt vor Jahren schon einmal mit einem solchen Großversuch gescheitert war. 2003 hatte die Verwaltung auf Linux umstellen wollen, war aber – aufgrund von „Kompatibilitätsproblemen“ – wieder auf kommerzielle Software umgestiegen. Jetzt, nach einem von SPD und Grünen durchgesetzten Ratsbeschluss, geht das Spiel von vorne los.
„Es ist nur billig und recht, dass mit Steuergeldern finanzierte Software auch der Allgemeinheit zur Verfügung steht, statt den sagenhaften Reichtum mancher Software-Anbieter zu mehren, die ihre monopolartige Stellung ausnutzen. Gleichzeitig wird mit Open Source das Know-How eines großen Potentials von versierten Programmierern und Programmiererinnen nutzbar, die wir ausdrücklich ermutigen wollen, an den Software-Projekten der Landeshauptstadt München mitzuwirken“, sagt Grünen-Stadträtin Judith Greif dazu.
Heißt also: Kommerzielle technische Lösungen, die in bundesweit praktisch jedem Unternehmen und jeder Behörde eingesetzt werden, sollen verdrängt werden. Stattdessen darf experimentiert werden. Wer soll das denn laut Wahlprogramm für die Schulen übernehmen? „Hauptberufliche Administrator*innen sind notwendig, um die technische Infrastruktur an Schulen aufzubauen und zu pflegen“, so heißt es. IT-Fachkräfte werden allerdings auch von der Wirtschaft händeringend gesucht. Wo sollen die also für Bildungseinrichtungen herkommen, wenn naturgemäß im öffentlichen Dienst deutlich schlechter bezahlt wird? Dazu sagt das Wahlprogramm nichts.
Grundsätzlich gilt für die Grünen: „Bildung in der digitalen Welt ist viel mehr als Wissensvermittlung, sie ist ein Schlüssel für Zukunftskompetenzen. Die Digitalisierung hat unsere Art zu leben verändert, also muss sich auch unsere Art, Schule zu denken, wandeln. (…) Mit Lehrer*innen, die Kompetenzorientierung in den Mittelpunkt des Lernens rücken, Schüler*innen, die sich spielerisch, zum Beispiel durch Game-based Learning, kooperativ neue Inhalte erschließen, und Schulen, die dafür technisch optimal aufgestellt sind. Dabei müssen sowohl das technische Grundverständnis als auch die soziale Dimension der digitalen Entwicklung Thema sein. Allerdings hat die Pandemie gezeigt, dass es schon an den Grundlagen fehlt, auch im Vergleich mit anderen Ländern. Das wollen wir ändern.“
“Sommercamps und Nachhilfe in den Kernfächern alleine werden nicht ausreichen, um die Folgen der Krise zu bewältigen”
Womit wir bei Corona wären. Was sagen die Grünen zu den Folgen der Krise auf die Bildung? „Die Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen, gerade bei Kindern, die es zu Hause auch davor schon schwerer hatten. Sommercamps und Nachhilfe in den Kernfächern alleine werden nicht ausreichen, um die Folgen der Krise zu bewältigen.”
Wie sonst? „Wir wollen die Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken. Sie brauchen jetzt eine helfende Hand, ein offenes Ohr und freie Räume, um den Weg in ihr normales Leben zurückzufinden. Dafür bauen wir Sport-, Erlebnis-, und Kulturangebote aus und stärken die Beratung und Einzelfallhilfe für Schüler*innen sowie die Vermittlung von Wissen zur psychischen Gesundheit und zu Krisen an Schulen. Mit Mentor*innen, Bildungslots*innen, Schulsozial-arbeiter*innen und Psycholog*innen knüpfen wir ein sicheres Netz an breiter Unterstützung, um die psychische Gesundheit von unseren Kindern und Jugendlichen nachhaltig besser zu schützen. Jedes zusätzliche Angebot für die Krisenbewältigung soll die Qualität an KiTas, Horten und Ganztagsschulen langfristig voranbringen“, so heißt es. Was das konkret bedeutet – Wie viel Geld ist nötig? Was sollen die Schulen dabei leisten? Wo soll das Personal dafür herkommen –, auch das bleibt offen. News4teachers
Wir werden uns in den nächsten Tagen auch der Wahlprogramme der anderen Bundestagsparteien widmen.
Baerbock fordert von Ländern «schöne» Schulen (ohne dafür mehr Geld auszugeben)
