DÜSSELDORF. Wie viele Warnungen braucht eine Landesregierung, um von einem Vorhaben abzurücken, das erkennbar in die Krise führt? Offenbar viele. Obwohl in den beiden Bundesländern, die die Maskenpflicht im Unterricht gestrichen haben und in denen die Entwicklung noch nicht durch die Herbstferien gebremst wurde – Thüringen und Bayern – die Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen ein katastrophales Niveau erreicht haben, erwägt Nordrhein-Westfalen nun den gleichen Schritt. Heute hat Schleswig-Holstein angekündigt, die Maskenpflicht im Klassenraum abzuschaffen. Baden-Württemberg hatte das schon in der vergangenen Woche vollzogen. Ist es vielleicht sogar Kalkül, die vierte Corona-Welle ungebremst durch die Schulen rauschen zu lassen?
Was passiert, wenn in Schulen alle Corona-Schutzmaßnahmen fallen? „Sie infizieren dann die Kinder durch, die noch nicht geimpft werden können“, sagt der Virologe Prof. Alexander Kekulé in einem Interview mit ntv. „Und das passiert ja gerade in den Schulen, mehr oder minder vorsätzlich. Ich finde, das hätte man vielleicht etwas offener kommunizieren können.“ Ein höchst riskanter Kurs, der mit Menschenleben spielt, wie der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle betont: „Es gäbe die Option, alles aufzumachen und dann hätte man eine völlig ungehemmte Infektionslawine. Das Problem ist, wenn die Lawine erst einmal losgetreten ist, dann haben sie einen exponentiellen Effekt und können nicht mehr sagen, ‚Ah, stopp. Ich hab’s mir anders überlegt.‘ Dann ist der Stöpsel draußen.“
Die Schulen werden vermutlich irgendwann (bald) gezwungen, zu schließen – wegen hohem Krankenstand in den Kollegien. Dann wird auch kein Distanzunterricht möglich sein. Ob nicht doch die #Maskenpflicht die bessere Lösung wäre, @KM_BW? #Durchseuchung #TeamKinderschutz https://t.co/PMR7piqXv3
— Frau Rektorin (@FrauRektorin) October 26, 2021
“Der aktuelle Zeitpunkt für ein Beenden der Schutzmaßnahmen in Schulen erscheint denkbar ungünstig“
Was das bedeutet, lässt sich gerade in Thüringen und Bayern beobachten. In den beiden „Freistaaten“ verzeichnen mittlerweile drei Dutzend Städte und Landkreise Inzidenzen unter Fünf- bis 14-Jährigen über 500 – in vier davon, in Thüringen der Kyffhäuserkreis sowie der Landkreis Sonnenberg, in Bayern die Landkreise Straubing-Bogen und Berchtesgadener Land, weisen in der Altersgruppe sogar Werte jenseits der 1.000 auf. Das Robert-Koch-Institut registriert immer mehr Schul-Ausbrüche – und zwar so viele wie nie. Bayern und Thüringen hatten die Maskenpflicht im Unterricht gestrichen. In Thüringen soll sie inzidenzabhängig in einigen Regionen zurückkommen; das bayerische Landeskabinett kommt heute zu einer Krisensitzung zusammen, auf der über eine Rücknahme der Lockerung beraten wird.
Und in dieser Situation marschieren die bevölkerungsreichen Bundesländer Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen in die entgegengesetzte Richtung – hin zu einer Lockerung. Die Stuttgarter Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hat die Maskenpflicht im Unterricht bereits vergangene Woche aufgehoben, obwohl die Inzidenzen unter Kindern schon jetzt dramatisch hoch sind. Die meisten Landkreise verzeichnen Werte in dieser Altersgruppe zwischen 200 und 500. Spitzenreiter ist die Stadt Baden-Baden mit 645. In Nordrhein-Westfalen ist die Lage, bedingt vor allem durch die Herbstferien, noch günstiger. Hier gibt es erst zwei Kommunen, die Landkreise Gütersloh und Lippe, die Inzidenzen unter Schülerinnen und Schülern von über 200 aufweisen. Das wird sich aber absehbar ändern – gestern hat die Schule in NRW wieder begonnen. Und ab nächster Woche läuft der Unterricht dann womöglich ohne Masken. Darüber wolle das Schulministerium am Donnerstag entscheiden, so heißt es in einem Bericht der „Rheinischen Post“.
Darin kommen zahlreiche Kritiker zu Wort. „Der Maskenfall zum jetzigen Zeitpunkt ist einfach zu früh“, sagt etwa die Landesvorsitzende des Philologenverbands, Sabine Mistler. „Wohl wissend, dass Kinder und Jugendliche grundsätzlich ein geringeres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf aufweisen, erscheint der aktuelle Zeitpunkt für ein Beenden der Schutzmaßnahmen in Schulen denkbar ungünstig“, meint auch der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Dr. med. Frank Bergmann.
Denn ein „grundsätzlich geringeres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf“ bedeutet eben nicht „kein Risiko“ – wie der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nicht müde wird zu erklären. Auf Twitter erklärt er – unter Bezug auf eine neue Studie der Universität Dresden, die in Kooperation mit dem Robert-Koch-Institut erstellt worden sei –, dass vergleichbar viele Kinder an Long-Covid erkranken wie Erwachsene. “Die Daten sprechen für die Impfung von Kindern und gegen eine Durchseuchung”, so schreibt er.
Auch die Landesschülervertretung versteht nicht, warum die Landesregierung immer noch allen Ernstes die Abschaffung der Masken im Unterricht erwägt. „Wir sehen den Schritt kritisch, weil wir steigende Inzidenzzahlen haben und die jüngeren Schüler noch ungeimpft sind“, sagt Vorstandmitglied Johanna Börgermann gegenüber der “Rheinischen Post”. „Es ist nicht nachvollziehbar, dass ausgerechnet in der Gruppe, in der die Inzidenz besonders hoch ist, nun die Masken fallen sollen.“
Heute das Corona-Thema wiederholt.
Frage aus der Klasse: Warum die unter 12 Jährigen, jetzt, wo sie zur Durchseuchung freigegeben wurden, noch Rücksicht auf irgendwas nehmen sollen? Ihre großen Geschwister gehen auch Party machen.Ich geb das mal weiter hier ins #twlz Vorschläge?— Boris Bruhn 🟣 (@BruhnBoris) October 26, 2021
Es sei denn – böser Verdacht –, die Landesregierungen legen es sogar darauf an, dass das Coronavirus möglichst viele Kinder ansteckt, um so möglichst schnell eine „Herdenimmunität“ zu erreichen. „Uns beschleicht der Verdacht, dass die Landesregierung bewusst auf eine schnelle Durchseuchung der Schulen setzt, in der Hoffnung, dass dann Ruhe herrscht. Aber das ist fatal. Abgesehen davon, dass dabei die Gesundheit vieler Menschen vorsätzlich aufs Spiel gesetzt wird, entsteht ja auch durch die immer wieder notwendigen Quarantänemaßnahmen eine enorme Belastung für alle Beteiligten“, so erklärte unlängst Rolf Busch, Vorsitzender des Thüringer Lehrerverbands, mit Blick auf den Freistaat.
Sagt mal @BildungslandNRW (sic!) was passiert, wenn ich mein Kind in der aktuellen Situation bei rasant ansteigenden Infektionszahlen und Wegfall der Maskenpflicht aus der Schule nehme?
Kommt dann die Polizei und setzt mein Kind in die Klasse?
Ich glaube das gucke ich mir an.— Intensivdoc (@narkosedoc) October 24, 2021
„Masken tragen, Schnelltests, Lüften oder Luftreiniger, Infektionsketten nachverfolgen!”
Auch Prof. Kekulé hält es für keineswegs abwegig, dass Landesregierungen bewusst einen Durchseuchungskurs unter Kindern einschlagen. Er betont: „Eine Corona-Infektion ist für die Generation der unter 20-Jährigen fast immer harmlos. Man muss aber respektieren, dass es Eltern gibt, die sagen, ich will nicht, dass mein Kind in der Schule mehr oder minder vorsätzlich angesteckt wird. Die haben Angst vor dem Virus, das ist nach eineinhalb Jahren Corona-Alarm auch kein Wunder. Da können wir nicht sagen, wir lassen jetzt das Virus von der Kette und ihr müsst damit klarkommen.“ Weiter sagt er: „Masken tragen, Schnelltests, Lüften oder Luftreiniger, Infektionsketten nachverfolgen. Das ist meines Erachtens der Weg, wie wir im Kita- und Schulbereich durch den Winter kommen. Dadurch kann man verhindern, dass es zu diesen 500er-Inzidenzen kommt.“ Wenn Sicherheit denn überhaupt politisch gewünscht wird. News4teachers / mit Material der dpa