FREIBURG. Der Medizinstatistiker Prof. Gerd Antes, ehemaliges Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) und Träger des „Ehrenzeichens der deutschen Ärzteschaft“, hat die Kultusminister für ihre Corona-Politik kritisiert – weil sie überhaupt Schutzmaßnahmen in Schulen wie die Maskenpflicht erwägen. Es brauche eine Immunisierung der Gesellschaft. „Wenn wir sagen, wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, dann heißt das, dass die kontrollierte Infizierung in irgendeiner Form passieren muss“, so erklärte Antes. Im Klartext: Der Mathematiker spricht sich für die möglichst schnelle Durchseuchung der Schülerschaft aus. Die könnte allerdings, so fürchten Ärzte und Virologen, dramatische Folgen haben.
Es sei unvermeidlich, so Antes gegenüber dem SWR, dass sich jeder über kurz oder lang mit dem Virus infizieren werde, auch die die Geimpften, nur dass diese vor einem schweren Verlauf besser geschützt seien. Der Weg zur Normalität verlaufe seiner Ansicht nach über die Immunisierung durch Impfung – und: die natürliche Immunisierung nach Infektion. Strengere Maßnahmen an Schulen, etwa eine mögliche Wiedereinführung der Maskenpflicht, hält Antes deshalb für falsch. Er spricht sich auch gegen eine Impfung für Kinder aus – diese hätten in der Regel keine schweren Verläufe zu befürchten. Aufgrund der enormen Altersabhängigkeit bei der Gefährdung ist es laut Antes jetzt wichtiger, dass die Politik sich gezielt auf die vulnerablen Gruppen konzentriert.
Eine Durchseuchung der Kinder ist sehr wohl vermeidbar. Die Impfung ist in Griffweite und bis dahin gibt es evidenzbasierte Schutzmassnahmen wie von der American Academy of Pediatrics und CDC empfohlen. https://t.co/Psk187OvUz
— Dominique de Quervain (@quervain_de) November 6, 2021
Ist es ein gangbarer Weg, das Infektionsgeschehen in Kitas und Schulen ungebremst laufen zu lassen – wie es faktisch mancherorts in Deutschland bereits geschieht? „Klar ist: Kinder erkranken im Vergleich zu Erwachsenen deutlich seltener schwer an Covid-19. Aber ihr Risiko ist nicht null“, so schreibt das Wissenschaftsmagazin „Quarks“, das die Folgen eines Durchseuchungskurses durchgerechnet hat. „Würde man in Kauf nehmen, dass sich alle Kinder und Jugendlichen natürlich infizieren, und ginge man dabei von den offiziellen Zahlen und der Fallsterblichkeit aus, würde es grob hochgerechnet nach und nach zu 110.000 Krankenhauseinweisungen und etwa 700 Todesfällen führen. Die Zahlen werden aber mit hoher Wahrscheinlichkeit darunter liegen“, so heißt es.
„Nach aktuellen Einschätzungen könnten womöglich etwa zwei bis drei Prozent der infizierten Kinder Post Covid-Symptome zeigen”
Wenn nämlich mit eingerechnet werde, dass besonders gefährdete Kinder mit Vorerkrankungen bereits geimpft seien, würde das die Todeszahlen senken. Aber auch dann ist mit Sterbefällen zu rechnen. „Entgegen der Fallsterblichkeit liegt die Infektionssterblichkeit (inkusive Dunkelziffer) von Covid-19 gemäß mehrerer Analysen um den Bereich von etwa 0,001 bis 0,002 Prozent für Kinder und Jugendliche. Dementsprechend wären bei vollständiger Durchseuchung aller Kinder 110 bis 220 Todesfälle zu erwarten.“ Dazu kommen langfristige Schäden durch das vereinzelt auftretende PIM-Syndrom und durch Long-Covid. Insbesondere bei Long-Covid ist die Datenlage unklar, weil die Symptome (wie Kopfschmerz, Müdigkeit oder Konzentrationsstörungen) diffus sind.
„Nach aktuellen Einschätzungen könnten womöglich etwa zwei bis drei Prozent der infizierten Kinder und Jugendlichen Post-Covid-Symptome zeigen. Die allermeisten scheinen über die Zeit von selbst wieder abzuklingen. Bislang deuten Befragungen zu Covid-19 darauf hin. So zeigten in Australien acht Prozent der (wenigen) untersuchten Kinder nach drei bis sechs Monaten noch Symptome. Nach neun Monaten aber zeigte keines mehr Einschränkungen“, so berichtet Quarks. „Allerdings gibt es immer wieder Berichte einzelner Fälle, die noch länger Symptome zeigen und viel stärker eingeschränkt sind, etwa durch neurologische Störungen. Das ist auch bei anderen Viruserkrankungen bekannt.“
Der Chef-Virologe der Berliner Charité, Prof. Christian Drosten, hatte die Politik schon im September vor einer Durchseuchung der Kinder und Jugendlichen gewarnt. „Es ist ganz klar, das kann man nicht machen“, erklärte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Vorsicht sei geboten. Die vorliegenden Daten lieferten keinen Beweis dafür, dass Kinder nicht in nennenswerter Zahl von schweren Erkrankungsverläufen wie inflammatorischen Syndromen betroffen sein könnten. „Diese Sicherheit bräuchten wir ja, um die Kinder im Prinzip, wenn man das so salopp sagen möchte, freizugeben für eine Durchinfektion. Das kann man auf keinen Fall machen“, sagte Drosten.
Zumal sich aktuell ein weiteres Problem erkennen lässt: eine dramatisch anschwellende Infektionswelle mit dem RS-Virus unter Kindern, die die Kinderkliniken derzeit an den Rand ihrer Kapazitäten bringt. Über den Zusammenhang mit Corona wird spekuliert – etwa dergestalt, dass die Heftigkeit der neuen Welle damit zu tun hat, dass die Kinder aufgrund der Schutzmaßnahmen in Schulen und Kitas nicht genügend körpereigene Immunität hätten aufbauen können.
„Einfach die Augen zu verschließen und zu behaupten, Covid-19 sei für Kinder egal, ist keine Lösung”
Eine neue Studie der TU Dresden, über die News4teachers berichtet, weist womöglich in eine andere Richtung: Corona-Patienten leiden mitunter nicht nur unter lang andauernden Symptomen (“Long-Covid” oder “Post-Covid”). Sie sind nach überstandener Corona-Infektion auch anfälliger für andere Erkrankungen. Laut einer Analyse von Krankenversicherungsdaten haben sie drei Monate nach der akuten Infektion häufiger ärztliche Diagnosen physischer und psychischer Symptome erhalten als andere Menschen, teilte das Universitätsklinikum Dresden mit – und dieser Befund gilt auch für Kinder und Jugendliche.
Wir haben in der Schweiz die groteske Situation, dass Pädiatrie Schweiz kürzlich explizit zugegeben hat, dass die „Durchseuchung der Kinder“ von Anfang an zugelassen wurde. 😰 https://t.co/AXpNgM4hsu
— Sus Scrofa – protect the kids #Bildungabersicher (@SusScro58355800) November 6, 2021
„Gesunde Kinder können so einen Infekt durchaus durchstehen“, so erklärte der Landesvorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Dr. med. Dominik Ewald, unlängst mit Blick auf das insbesondere für Kleine gefährliche RS-Virus. Problematisch sei derzeit aber, dass sich viele Kinder einen Infekt nach dem anderen einfingen und dann zu geschwächt seien, um dem RS-Virus noch viel entgegensetzen zu können. Die Durchseuchung mit dem Corona-Virus könnte also anderen – für Kinder noch gefährlicheren – Viruserkrankungen den Weg bereiten.
Es ist sehr zu begrüssen, dass in den US BionTech Zulassung für Kinder 5-11 Lj bekam. Die Vorteile der Impfung vor der Durchseuchung sind klar. Insbesondere das #LongCovid Risiko. Hoffentlich reagieren EMA und Stiko schnell. https://t.co/OqsTi7AIbX
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) November 3, 2021
Und die Durchseuchung der Kinder wird auch weiter vorangetrieben, ohne Rücksicht auf Verluste. Wie wissenschafts- und kinderfeindlich kann ein Land sein? #ProtectTheKids #TeamKinderschutz #LongCovidKids https://t.co/u2e3mwkpJ7
— Herr Schmidt (@HerrSchmidt15) November 10, 2021
Das unterstreicht auch die britische Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Nisreen Alwan in einem Interview mit dem „Spiegel”, die vor allen Versuchen warnt, Kinder für die Durchseuchung freizugeben. „Schätzungen zufolge haben in Großbritannien rund 11.000 Kinder mehr als ein Jahr nach ihrer Coronainfektion immer noch Beschwerden. Das beeinträchtigt ihre Ausbildung, ihr Sozialleben, ihre psychische Gesundheit, alles”, so berichtet sie. Und weiter: „Ich leide selbst an Long Covid, ich weiß, wie schlimm das ist. Nach meiner Infektion im März 2020 habe ich mich nie wieder ganz erholt, auch wenn meine Beschwerden zum Glück nicht so schlimm sind wie bei vielen anderen. Es stimmt zwar, dass Long Covid bei Kindern seltener auftritt als bei Erwachsenen, wie häufig genau, ist noch unbekannt – aber wenn sich eine riesige Zahl an Kindern infiziert, dann trifft es am Ende auf jeden Fall viele.”
Sie betont: „Einfach die Augen zu verschließen und zu behaupten, Covid-19 sei für Kinder egal, ist keine Lösung.” News4teachers