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Wusste der Bundestag nicht, worüber er abstimmt? Schulschließungen müssen jetzt (z. B.) “Weihnachtsferien” heißen

BERLIN. Hat die Ampel-Koalition nicht verstanden, was sie für die Schulen beschlossen hat, als sie die epidemische Notlage auslaufen ließ und ein neues Infektionsschutzgesetz in Kraft setzte? Ein Interview mit dem FDP-Generalsekretär, selbst Jurist von Beruf, legt den Eindruck nahe. Rechtsprofessor Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld zeigt sich auf Twitter entsetzt. Unterdessen lassen sich schon die grotesken Folgen des Bundestags-Beschlusses beobachten: Schulschließungen müssen (z. B.) als “Weihnachtsferien” etikettiert werden.

Planlos in der Pandemie? Der designierte neue Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) während der ersten Sitzung des Bundestags nach der Wahl im Oktober. Foto: Juergen Nowak / Shutterstock

Deutschlandfunk, Informationen am Morgen, 26. November, 6:48

Moderator: Brandenburg hat Schulschließungen ja schon verkündet – und zwar sollen da die Weihnachtsferien vorverlegt werden. Ist das erlaubt nach Ihrem Infektionsschutzgesetz?

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Volker Wissing: Das ist eine Sache der Länder. Die Bildungspolitik liegt nicht in der Zuständigkeit der Länder.

Moderator: Aber es sind doch Schulschließungen de facto.

Wissing: Darüber müssen die Länder entscheiden. Nochmal, der Bund ist nicht zuständig für die Bildungspolitik, sondern für den Infektionsschutz und hier hat das Bundesgesetz angeordnet, was aus bundesrechtlicher Sicht erforderlich ist.

Moderator: Ich habe das jetzt so verstanden, dass flächendeckende Schulschließungen laut Infektionsschutzgesetz nicht mehr möglich sein sollen. Habe ich das falsch verstanden?

Wissing: Es ist so, dass die Bildungspolitik nach unserer Verfassung in der Zuständigkeit der Länder liegt und der Bund nicht darüber entscheiden kann, wann Schulen geöffnet und wann Schulen geschlossen werden. Das ist richtig, was Sie sagen.

Moderator: Also könnte theoretisch noch immer jeder Regierungschef sagen, wenn er denn wollte: Ok, ich mach die Schulen dicht.

Wissing: Die Länder haben sehr weitreichende Möglichkeiten, ja.

Volker Wissing ist nicht irgendwer. Der frühere Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, von Beruf: Jurist, ist als FDP-Generalsekretär einer der Architekten der Ampel-Koalition (und wird der Regierung als Bundesverkehrsminister angehören). Offenbar hat er allerdings keine Ahnung, was er selbst mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen von FDP, Grünen und SPD vergangene Woche beschlossen hat, als es um das Auslaufen der epidemischen Notlage und ein neues Infektionsschutzgesetz ging.

„Bitter. Er hat‘s selber nicht verstanden“, twittert Jura-Professor Mayer. „Nochmals, gilt seit gestern (26. November, d. Red.): die Ampel hat den Ländern ausdrücklich VERBOTEN aus Gründen des Infektionsschutzes Schulen zu schließen. Wenn die Länder irgendeinen anderen Grund finden… aber dann wird jemand klagen… Rechtssicherheit…“ Dazu veröffentlicht er einen Auszug aus dem neuen Infektionsschutzgesetz, wonach (§28a) „folgende Schutzmaßnahmen ausgeschlossen sind: (…) die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von §33.“

In §33 heißt es dann: „Gemeinschaftseinrichtungen im Sine dieses Gesetzes sind Einrichtungen, in denen überwiegend minderjährige Personen betreut werden, dazu gehören insbesondere 1. Kindertageseinrichtungen und Kinderhorte, 2. die Kindertagespflege, 3. Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen, 4. Heime und 5. Ferienlager.“

Welche absurden Konsequenzen die neue Rechtslage hat, zeigt die aktuelle Situation in Sachsen. Aufgrund des explodierenden Infektionsgeschehens sind in dieser Woche vom Kultusministerium – per Einzelverfügung, Schule für Schule – ein Viertel der Schulen im Land geschlossen worden. Immer musste zuvor ein großer Corona-Ausbruch festgestellt werden. Angesprochen darauf, ob denn dann nicht bald generelle Schulschließungen angezeigt wären, erklärte Kultusminister Christian Piwarz (CDU): Die aktuelle Rechtslage erlaube keinen kompletten Lockdown.

Der Bund habe den Ländern zwar eine Übergangsfrist bis zum 15. Dezember eingeräumt, allerdings hätten Maßnahmen spätestens am 25. November in Kraft treten müssen. Mit diesem Datum habe die Ampel-Koalition das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verknüpft. Jetzt sei es nicht mehr möglich, noch einmal Verschärfungen vorzunehmen, sagte Piwarz. Sachsen habe das mit der aktuellen Notfallverordnung schon getan.

Man wolle Schulen und Kitas weiter für den Präsenzbetrieb offenhalten. Allerdings müsse man jede Woche überprüfen, ob man diesen Weg weiter gehen könne. Er ließ offen, ob Sachsen wegen der Pandemie die Weihnachtsferien vorzieht. Piwarz: „In dieser schwierigen Situation sollte man nichts ausschließen.» Er sei mit Blick auf das vergangene Jahr aber noch skeptisch. Die Wirkung sei damals äußerst begrenzt gewesen.

„Wenn die Infektionsnotlage es erfordert, wird es natürlich auch Schulschließungen geben. Wird nur anders heißen”

Bereits in der vergangenen Woche hatte Mayer – mit Blick auf die Parlamentsdebatte – festgestellt: „Gerade jetzt Streit um diese Punkte im Bundestag. Offensichtlich ist nicht einmal klar ersichtlich, was im Gesetz steht. Den Mitgliedern der Legislative. Prost Mahlzeit. Höre ich immer wieder: viele verstehen nicht, was da gerade passiert. Nochmal, ab nächsten Donnerstag (26. November, d. Red.) unmöglich: ganz oder teilweise Lockdown, ganz oder teilweise Geschäfte schließen, Schulen& Kitas schließen, Verbote von tourist. Reisen, Übernachtungen, Kneipenbesuchen. Gibt‘s eigentlich IRGENDEIN Land auf der Welt, das als erstes festgelegt hat, was es alles NICHT tut gegen die Pandemie? Wir machen uns auch im internationalen Vergleich doch hochgradig lächerlich.“

Und weiter: „Ich habe es leider immer noch nicht verstanden: WARUM GENAU wird die epidemische Lage von nationaler Tragweite nicht verlängert? Wenn Antwort lauten sollte ‚weil das vor allem eine Partei so will‘, dann läuft etwas ziemlich schief. Weil das keine Antwort ist, wenn‘s um Leben & Tod geht.“ Und: „Was für ein Gesetzgebungsmurks.“ Dazu die Einschätzung: „Wenn die Infektionsnotlage es erfordert, wird es natürlich auch Lockdown, Ausgangssperren und Schulschließungen geben. Wird nur anders heißen oder anders begründet = weniger Rechtssicherheit.“

Schulschließungen heißen dann zum Beispiel: Weihnachtsferien.

Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Ralph Brinkhaus, hat den Neusprech bereits verinnerlicht. In der „Welt am Sonntag“ erklärt er heute: „Sollte sich die Lage noch verschlimmern, muss meines Erachtens auch darüber nachgedacht werden, die Weihnachtsferien überall ein bis zwei Wochen früher beginnen zu lassen, um die Kontakte zum Beispiel in den Schulen zu reduzieren.“ News4teachers

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