BERLIN. Viele Schulklassen haben mehr als 30 Schüler. Oft senkt das die Bildungsqualität und überlastet Lehrkräfte. Jetzt soll es in Berlin deshalb einen Warnstreik an den Schulen geben. Die GEW macht mobil. Sie will die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in einem Tarifvertrag festschreiben lassen.
Die GEW ruft die Lehrkräfte in Berlin zu einem ganztägigen Warnstreik am 7. April auf. «Unser Ziel ist ein Tarifvertrag, der die Verkleinerung der Klassen festlegen soll», sagt GEW-Landesvorsitzender Tom Erdmann. Die Gewerkschaft habe Finanzsenator Daniel Wesener (Grüne) zu Tarifverhandlungen aufgerufen. Da dies laut Erdmann aber bisher erfolglos blieb, habe man sich entschieden, den Weg des Warnstreiks zu gehen.
Konkret fordert die GEW etwa bei Grundschulen, die Klassengröße auf 19 Schülerinnen und Schüler zu begrenzen. Bisher sind aktuell bis zu 26 Kinder pro Grundschulklasse erlaubt. Außerdem soll ab einer Schulgröße von 2000 Schülerinnen und Schülern eine Schulpsychologenstelle eingerichtet werden und pro 150 Schüler eine Sozialpädagogenstelle. Kleinere Klassen hätten viele Vorteile. Sie verringerten die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte und steigerten die individuelle Förderung der Kinder, sagt Anne Albers, Leiterin des Vorstandsbereichs Tarifpolitik bei der Berliner GEW.
“Durch bessere Lernbedingungen würden alle profitieren: Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern”
Wie viele Lehrkräfte für das Vorhaben zusätzlich benötigt würden, kann nach Albers Angaben nicht genau ausgerechnet werden. Das hänge von vielen Faktoren ab. «Es kann auch sein, dass die Köpfe, die da sind, weniger belastet und dadurch nicht so oft krank werden oder sich nicht gezwungen fühlen, in Teilzeit zu gehen. Das heißt, die Ressourcen, die da sind, könnten auch besser genutzt werden», sagte sie. Nach ihren Angaben arbeiten derzeit rund 30 Prozent der Berliner Lehrkräfte in Teilzeit. So beträgt der durchschnittliche Beschäftigungsumfang pro Lehrkraft 85 Prozent. Es sei vorstellbar, dass einige von ihnen zur Vollzeit zurückkehrten, wenn die Klassen kleiner würden.
Kleinere Klassen könnten sich auch positiv auf den Lehrermangel auswirken. «Wenn Lehrkräfte wissen, in Berlin sind die Klassen kleiner, da ist die Belastung niedriger, dann könnte es vielleicht zu einer Zuwanderung der Fachkräfte kommen», sagt Albers.
Ein solcher Tarifvertrag wäre ein bundesweites Novum für bessere Bedingungen an den Schulen, meinte Udo Mertens, Leiter des Vorstandsbereichs Tarifpolitik der GEW Berlin. «Das wäre ein absoluter Paradigmenwechsel, weil die Arbeitsentlastung bisher nicht mitgedacht wurde.» Bisher werde das Verhältnis von Schülern zu Lehrkräften in Verwaltungsvorschriften einseitig vom Arbeitgeber festgelegt. «Gewerkschaften sind aber bei Tarifbeschäftigten anders als bei Beamt*innen nicht darauf beschränkt, nur die Folgen einer verfehlten Bildungspolitik zu kritisieren, sie können auch vorbeugend Arbeitsentlastungen in Tarifverträgen regeln. Genau das wollen wir hier erreichen.»
Mertens unterstreicht: «Unser Tarifprojekt fordert, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Gute Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen festzuschreiben. Durch bessere Lernbedingungen würden alle profitieren: Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern.»
Lehrkräfte nehmen „große Lerngruppen“ als stärksten Belastungsfaktor wahr
Eine von der GEW im Januar 2021 durchgeführte Befragung, an der mehr als 2.000 Lehrkräfte teilgenommen haben, belegt: Lehrkräfte nehmen „große Lerngruppen“ mit 67,9 Prozent Zustimmung als stärksten Belastungsfaktor wahr, deutlich vor Personalmangel (46,6 Prozent), schlechter technischer Ausstattung (45,5 Prozent) oder Lärm (45,1 Prozent). Als wichtigste Potenziale kleiner Klassen nennen die Lehrerinnen und Lehrer „mehr Zeit für Beziehungsarbeit für jede*n Schüler*in«“ (87,1 Prozent), „mehr Zeit für individuelle Förderung“ (85,6 Prozent), „mehr Zeit für Differenzierung“ (73,2 Prozent), dann erst folgt „weniger Korrekturaufwand“ (61,8 Prozent).
„Dieses sind auch zentrale Merkmale eines guten, binnendifferenzierten Unterrichts in der inklusiven Schule und einer zeitgemäßen schüler*innenorientierten Didaktik“, betont Albers. Sie fasst die Ergebnisse der Untersuchung so zusammen: „Lehrer*innen wollen die Entlastung durch kleinere Klassen, um ihren Job gut machen zu können. Am besten geht das in kleineren Lerngruppen, die für mehr Arbeitszufriedenheit sorgen und mit weniger Lärm und geringerer psychischer Belastung einhergehen. Sie leisten einen großen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheit am Arbeitsplatz von Lehrer*innen“.
Übrigens: Die Senatsverwaltung für Finanzen hat den Vorwurf GEW zurückgewiesen, einen Aufruf zu Tarifverhandlungen ignoriert zu haben. Das sei «nicht zutreffend», sagte ein Sprecher am Dienstag. Vielmehr sei die Aufnahme von Tarifverhandlungen abgelehnt worden, weil Berlin als Mitglied der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) an die TdL-Beschlüsse gebunden sei und keinen Alleingang anstrebe. Die TdL habe sich auch früher dagegen positioniert, Tarifverhandlungen zur Personalbemessung zu führen und sie auch in diesem Fall abgelehnt, hieß es weiter. News4teachers / mit Material der dpa
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