BERLIN. Dass es in den Schulen während der Pandemie an allen Ecken und Enden knirscht, ist offensichtlich. Tatsächlich hat das wohl systematische Gründe: Politik und Verwaltung betrachten das Bildungswesen nicht als „kritische Infrastruktur“ – weshalb ihm in Krisen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Forscherinnen und Forscher haben im Auftrag des Bundesamts für Bevölkerungsschutz mit Blick auf mögliche künftige Katastrophen das System unter die Lupe genommen. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass große Anstrengungen notwendig sind, um es widerstandsfähiger zu machen.
Die Coronavirus-Pandemie hat „deutlich gemacht, dass das Bildungswesen in Deutschland auf eine länger andauernde, großflächige und derart komplexe Krisenlage offenbar nur unzureichend vorbereitet gewesen ist. Wie problematisch sich die Situation im Bildungswesen dargestellt hat, kann nicht nur zahlreich verfügbaren Medienberichten und diversen wissenschaftlichen Untersuchungen entnommen werden. Auch die Tatsache, dass einige verbeamtete Lehrkräfte und Schulleitungen sich offenbar auf ihre Remonstrationspflicht berufen haben, lässt sich als ein Indiz dafür werten, dass es vielerorts äußerst schwierige Situationen gegeben haben muss, die aus Sicht der Akteurinnen und Akteure vor Ort kaum zu verantworten gewesen sind“, so heißt es in der Studie.
Die untersucht die Fragestellung, ob das Bildungswesen in Deutschland als „kritische Infrastruktur“ (und damit als „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen“) anzusehen sei – was durchaus Folgen hätte. Kitas und Schulen gelten nämlich bislang nicht als solche, anders etwa als der Energiesektor, das Gesundheitswesen oder „Staat und Verwaltung“. Dass zum Beispiel mobile Luftfilter schnell in Staatskanzleien und Landtagen aufgestellt wurden, aber in den meisten Bundesländern nicht flächendeckend in Schulen, dürfte dieser Systematik folgen. Ohnehin spielten, trotz aller Beteuerungen der Politik, die Schulen beim Infektionsschutz kaum eine Rolle – formal Präsenzunterricht aufrecht zu erhalten, stand über allem.
Zur Analyse der Situation haben die Autoren zahlreiche Medienberichte ausgewertet – News4teachers wird als oft verwendete Quelle ausdrücklich genannt. Darüber hinaus dienten Experteninterviews als Grundlage, darunter eins mit News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
“Etwa die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland ist direkt oder indirekt von der Funktionsfähigkeit des Bildungswesens abhängig”
Mit Blick auf die „Kritikalität“ der Kitas und Schulen stellen die Autoren um den Hamburger Krisenforscher Prof. Harald Karutz fest: „Die während der Coronavirus-Pandemie gesammelten Erfahrungen haben jedoch aufgezeigt, dass hier ein Umdenken angebracht sein könnte: Durch ein systemisches Versagen des Bildungswesens droht keineswegs nur vorübergehend hinnehmbarer Unterrichtsausfall; vielmehr ist von einer erheblichen Kritikalität des Bildungswesens auszugehen“, so schreiben sie.
„Immerhin ist etwa die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland direkt oder indirekt von der Funktionsfähigkeit des Bildungswesens abhängig: Von Krisensituationen, die sich auf Bildungseinrichtungen auswirken, sind nicht nur zahlreiche Kinder und Jugendliche, Lehrkräfte und weitere Mitarbeitende im direkten institutionellen Kontext betroffen, sondern immer auch die jeweiligen Eltern bzw. Sorgeberechtigten sowie das weitere soziale und berufliche Umfeld der Familien. Funktionseinschränkungen im Bildungswesen wirken sich unmittelbar auf andere Kritische Infrastrukturen aus: Elternteile, die sich ggf. ganztägig selbst um die Betreuung ihrer Kinder kümmern müssen, können beispielsweise nicht oder nur sehr begrenzt ihrer Arbeit nachgehen, sodass es in anderen Bereichen, etwa dem Gesundheitswesen oder auch Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, zu einer Verknappung personeller Ressourcen kommt.“
Weiter heißt es: „Darüber hinaus haben Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit des Bildungswesens bereits nach relativ kurzer Zeit erhebliche psychische, soziale und nicht
zuletzt ökonomische bzw. volkswirtschaftliche sowie juristische Auswirkungen; die
Verletzung fundamental bedeutsamer Rechte von Kindern und Jugendlichen, die
Verschärfung von Bildungsungerechtigkeiten sowie die Gefährdung von Bildungsabschlüssen seien hier nur beispielhaft genannt. Je länger Funktionsbeeinträchtigungen im Bildungswesen andauern, umso gravierender zeichnen sich diese Auswirkungen ab. Perspektivisch kann ein funktionsbeeinträchtigtes Bildungswesen mit Benachteiligungen im internationalen Wettbewerb, der Gefährdung von gesellschaftlichem Wohlstand und Wohlergehen sowie nicht zuletzt auch einer politischen Destabilisierung verbunden sein.“
Verletzlich sei das Bildungswesen allemal. „Ganz aktuell zeigte die verheerende Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, dass nicht nur eine Pandemie, sondern auch eine Extremwetterlage zu einer massiven, langfristig anhaltenden und großflächigen Beeinträchtigung des Bildungswesens führen kann: Im Katastrophengebiet wurden rund 150 Schulen so schwer beschädigt, dass in ihnen auf absehbare Zeit nicht mehr unterrichtet werden kann. (…) Doch nicht allein die anhaltende Coronavirus-Pandemie oder das aktuelle Hochwassergeschehen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz stellen große Gefahren und Risiken für sämtliche Einrichtungen des Bildungswesens dar. Allgemein kann festgestellt werden, dass es in Deutschland regelmäßig Ereignisse gibt, die negativ auf die Fortführung des Unterrichts und damit direkt auf die Funktionsfähigkeit des Bildungswesens einwirken. Diese Ereignisse unterscheiden sich in Form und Schwere teils sehr stark voneinander und reichen von den erwähnten Naturkatastrophen über Unfallereignisse und subtile kriminelle Akte bis hin zu massiver Gewaltanwendung wie etwa bei Amokläufen und anderen Tötungsdelikten im Schulkontext.“
Verschärfend komme hinzu, dass Lehrkräfte als vulnerable Gruppe zu betrachten sei, „die grundsätzlich als in hohem Maße vorbelastet zu betrachten ist. Zahlreiche Studien zur Gesundheit von Lehrkräften haben in den vergangenen Jahren aufgezeigt, dass Lehrkräfte im Vergleich zu anderen Berufsgruppen häufiger krank sind, insbesondere psychische
Störungsbilder wie Erschöpfungszustände, Burn-out und Depressionen bei ihnen häufiger auftreten und auch häufiger eine Frühpensionierung erforderlich ist als bei anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Im Rahmen der Coronavirus-Pandemie wurde davon ausgegangen, dass bis zu 20 Prozent der Lehrkräfte in Deutschland entweder aufgrund eigener gesundheitlicher Vorbelastungen oder im Haushalt lebender Risikopatienten von vornherein nicht dienstfähig gewesen sind.“
“Eine Lehrkraft stellt gewissermaßen schon an sich ein kritisches Element innerhalb des Bildungswesens dar”
Generell könne in Deutschland von einem Lehrkräftemangel und von einer überalterten Lehrerschaft ausgegangen werden. „Dies führt dazu, dass sich der Ausfall einer einzelnen Lehrperson direkt auf die Betreuung bzw. den Unterricht vieler Schülerinnen und Schüler auswirkt. Eine Lehrkraft stellt dadurch gewissermaßen schon an sich ein kritisches Element innerhalb des Bildungswesens dar. Dies gilt umso mehr, wenn man nicht nur von einem ‚technischen‘ Verhältnis zwischen Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern ausgeht, sondern wenn man auch auf die Bedeutung von persönlichen Beziehungen für gelingende Bildungsprozesse fokussiert. Aus diesem Grund kann der Ausfall einer Lehrperson – anders als in vielen anderen Berufen – auch nur begrenzt durch eine andere kompensiert werden: In wirklichen Bildungsprozessen geht es nicht einfach darum, dass ‚irgendjemand da ist und aufpasst‘, sondern es muss darum gehen, dass sich entsprechend qualifizierte Bezugspersonen tatsächlich um Kinder und Jugendliche kümmern und diese fachlich, sozial, persönlich und methodisch kompetent in ihren Bildungsbemühungen unterstützen.“
Zugleich ergebe sich aus diesem besonderen Tätigkeitsprofil von Lehrkräften in Pandemien noch ein weiterer vulnerabilitätserhöhender Aspekt: „Durch die erforderliche (physische) Nähe zu Kindern und Jugendlichen sind Lehrkräfte immer auch einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt. Unabhängig davon, wie das Infektionsrisiko in der aktuellen COVID-19-Pandemie eingeschätzt wird, muss dies bei einer Einschätzung des Gefährdungspotenzials von Lehrkräften, die immerhin die zentralen Akteure im Bildungswesen sind, berücksichtigt werden.“
„Insgesamt kann das Bildungswesen in Deutschland als eine Kritische Infrastruktur betrachtet werden”
So gelte grundsätzlich ein „permanenter Krisenzustand“ in Schulen. „Das System befindet sich auch im Alltag keineswegs im Ruhezustand, sondern ist vielerorts schon unabhängig von der Coronavirus-Pandemie bzw. auch anderen Krisensituationen in einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Krisenmodus. Lehrkräfte sind aus den unterschiedlichsten Gründen generell stark belastet und die Situation an zahlreichen Schulen ist permanent angespannt; mitunter „am Limit“: Personalnot bzw. Lehrkräftemangel, Anforderungen durch bildungspolitische Reformen und Curriculumsrevisionen, die Umsetzung der Inklusion, Disziplinschwierigkeiten bzw. die Zunahme von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten, zunehmend heterogene und zugleich größere Lerngruppen tragen u. a. dazu bei. Großflächige und lang anhaltende Schadens- bzw. Krisenlagen konfrontieren das Bildungswesen insofern nicht mit einer Krise, sondern mit einer weiteren Krise. Belastbarkeitsgrenzen sind bei Betroffenen im Schulkontext daher umso eher erreicht; Bewältigungsressourcen auch umso eher verbraucht.“
Als zentrale Botschaft halten die Autoren fest: „Insgesamt kann das Bildungswesen in Deutschland als eine Kritische Infrastruktur betrachtet werden, auch wenn die Kritikalität einzelner Teilfunktionen und Teilbereiche sicherlich noch differenzierter analysiert und diskutiert werden muss. Die Auswirkungen von Funktionseinschränkungen im Bildungswesen sind gravierend, betreffen sehr viele Menschen in unterschiedlichster Weise und wirken äußerst nachhaltig, d. h., sie sind kaum zu kompensieren.“
Um die Krisenfestigkeit des Bildungswesens zu erhöhen, seien Anstrengungen in zahlreichen Handlungsfeldern erforderlich. „Lediglich auf die Digitalisierung oder andere technische Aspekte der Ausstattung von Schulgebäuden zu fokussieren, wird der Komplexität der Problematik bei Weitem nicht gerecht. Einem umfassenden Bildungsverständnis bzw. einem systemischen Ansatz folgend müsste beispielsweise auch die Zusammenarbeit mit Eltern intensiviert und die „Krisenkompetenz“ von Lehrkräften gestärkt werden. Darüber hinaus fehlen pädagogische Konzepte, die die Krisenbewältigung thematisieren, und innerhalb des Bildungswesens scheinen strukturelle bzw. bildungsorganisatorische Veränderungen angebracht.“ News4teachers
Hier lässt sich die komplette Studie herunterladen.