BERLIN. Zum Christopher Street Day (CSD) 2022 erinnert die Berliner GEW daran, dass seit einem Jahr ein neuer Orientierungs- und Handlungsrahmen für eine “Sexualpädagogik der Vielfalt und zur Inklusion geschlechtlicher Vielfalt in Schulen” vorliegt. Der sei vorbildlich – nur: Er werde von der Bildungsverwaltung weder kommuniziert noch eingefordert.
„Sexualerziehung in der Schule fördert die psychosexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen alters- und entwicklungsgemäß und befähigt sie, ihre Sexualität bewusst und in freier Entscheidung sowie verantwortungsvoll sich selbst und anderen gegenüber zu leben”, so heißt es im Berliner und Brandenburger Orientierungs- und Handlungsrahmen (OHR) für das Thema “Sexualerziehung / Bildung für sexuelle Selbstbestimmung”, der nach zehn Jahren Überarbeitung im August 2021 online veröffentlicht wurde.
Und weiter: „Sexualerziehung begünstigt den Prozess, eigene Wertvorstellungen zu entwickeln und zu reflektieren. Schülerinnen und Schüler lernen hierfür die Vielfalt und Chancen kultureller und religiöser Wertvorstellungen, Lebensweisen und Lebenssituationen kennen. Sexualerziehung soll sie in der Entwicklung ihrer eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität unterstützen, zu einem selbstbewussten, achtsamen Umgang mit der eigenen Sexualität befähigen und Kompetenzen und Sensibilität für ein partnerschaftliches Leben in Beziehungen sowie ein respektvolles Miteinander fördern.”
„Wichtig ist ein vollständig akzeptierender Umgang mit verschiedenen Formen des Geschlechtsausdrucks”
So weit, so unstrittig. Kritischer dürfte von konservativer Seite folgender Passus aufgenommen werden: „Die schulische Sexualerziehung begleitet und fördert die Lernenden differenziert und mit Blick auf die Entwicklung ihrer eigenen Geschlechtsidentität. Sie stärkt sie in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstbestimmung. Wichtig ist ein vollständig akzeptierender Umgang mit verschiedenen Formen des Geschlechtsausdrucks, vor allem bei einem Verhalten, das als nicht geschlechterrollenkonform bewertet wird. Starre Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie Zuschreibungen von Geschlechterrollen und -verhaltensweisen, die traditionell als ‘typisch weiblich’ oder ‘typisch männlich’ betrachtet werden, sind – ohne sie zu reproduzieren – bewusst zu machen und zu hinterfragen. Die Sexualerziehung zielt auf ein bewusstes und selbstbestimmtes Rollenverhalten ab, eröffnet es und schafft Räume, sich entsprechend der eigenen Geschlechtsidentität zu entfalten.”
Im Glossar, in dem Begriffe erläutert werden, heißt es dann unter dem Stichwort „Körperliches Geschlecht”: „Mit einem nicht kulturell normierenden Blick auf die biologische Vielfalt können endlos viele Geschlechter beschrieben werden, je nach Kombination und Ausprägung der o. g. Faktoren. Durch altersbedingte oder medizinisch induzierte Veränderungen im Hormonspiegel und durch operative Veränderungen können sich die äußere Erscheinung und damit die geschlechtliche Wahrnehmung eines Menschen im Lebensverlauf verändern.”
Für die GEW ist das vorbildlich. „Der neue Orientierungs- und Handlungsrahmen ist inklusiv, kompetenzorientiert, wissenschaftlich fundiert und zugleich lebensweltnah. Die Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern in der Schule war längst überfällig“, erklärt GEW-Landesvorsitzende Martina Regulin.
Allerdings scheint die Politik die Öffentlichkeit damit zu scheuen. So wurden, wie die Gewerkschaft kritisiert, die Schulen nicht wie sonst über die neuen curricularen Standards informiert, es wurden keine Fortbildungen dazu angeboten und die Integration des verpflichtenden OHR in schulische Curricula wurde nicht überprüft oder überhaupt nur eingefordert. „Das muss von der Senatsverwaltung mit Fortbildungsangeboten und einem Informationsschreiben anerkannt werden“, fordert Regulin.
„Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt gibt es lange in Klassen- und Personalräumen”
Die GEW habe in einem Gespräch unlängst mit Staatssekretär Alexander Slotty (SPD) die Erwartung ausgesprochen, dass die Senatsbildungsverwaltung den notwendigen Mut hat, sich zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt zu bekennen und sich konservativen, queerfeindlichen und antifeministischen Bestrebungen entschieden entgegen zu stellen. Die Gewerkschaft bekräftigt nun ihre Forderung, endlich Richtlinien für die Inklusion von trans*, inter* und nichtbinären Kindern und Jugendlichen sowie mit dem Geschlechtseintrag „divers“ zu entwickeln.
„Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt gibt es lange in Klassen- und Personalräumen. Sie wird jetzt in den Unterrichtsinhalten dank des Orientierungs- und Handlungsrahmens Sexualerziehung gewürdigt. Diese Vielfalt sollte auch im schulischen Alltag durch entsprechende Leitlinien und Handlungsempfehlungen anerkannt werden“, argumentiert Regulin.
Denn daran hapere es nach wie vor. Ein Beispiel: Eine Verwendung eines neuen Vornamens auf dem Zeugnis vor der amtlichen Namensänderung sei seit dem vergangenen Jahr in Bremen möglich. In Berlin handhabe jede Schule die Inklusion von geschlechtlicher Vielfalt anders – und zwar nur auf Druck der Eltern oder der Schüler*innen selbst. „Kein Kind sollte selber zum Aktivisten oder zur Aktivistin werden müssen, nur weil die Behörde ihren Handlungsspielraum nicht ausschöpft“, fordert Regulin. „Die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen müssen respektiert werden. Überholte Regularien dürfen ihnen nicht im Wege stehen. Sie sollen sich wie alle anderen Schüler*innen auf das Lernen konzentrieren dürfen.“
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