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Trotz – oder wegen? – Inklusion: Schon jeder 13. Schüler (in NRW) hat sonderpädagogischen Förderbedarf

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DÜSSELDORF. Bei immer mehr Schülerinnen und Schülern wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Im Schuljahr 2021/22 hatten 7,7 Prozent der rund 1,9 Millionen Kinder und Jugendlichen an allgemeinbildenden Schulen im Land einen entsprechenden Status, so meldet die Landesstatistikbehörde IT.NRW aktuell. Bereits seit Jahren wächst die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen stetig, auch bundesweit.

Warum steigt die Zahl der Förderschüler in NRW und im gesamten Bundesgebiet? Mehrere Ursachen sind möglich. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Zunächst die – vermeintlich – gute Nachricht: Nordrhein-Westfalen macht auf dem Weg hin zu einem inklusiven Schulsystem Fortschritte, scheinbar jedenfalls. Die Inklusionsquote, die den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wiedergibt, die eine allgemeine Schule besuchen, liegt bei mittlerweile 44,7 Prozent. Sie ist im Vergleich zum Schuljahr 2020/21 nochmals leicht um 0,1 Prozentpunkte gestiegen. Im Zehnjahresvergleich zeigt sich ein stattliches Plus von 20,1 Prozentpunkten.

Einen Haken hat die vermeintliche Erfolgsmeldung: Im Schuljahr 2018/2019 gab es noch 132.500 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Nordrhein-Westfalen, im Jahr darauf waren es bereits 137.500 – ein Plus um 3,8 Prozent. 2020/21 stieg die Zahl dann auf 140.900. Aktuell liegt sie nochmals um 2,4 Prozent höher, nämlich bei 144.280. Das bedeutet: Die Inklusionsquote steigt zwar; gleichzeitig steigt aber auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen.

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„Woher kommen denn all die vielen, vielen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die nun zu den aufgeblasenen Inklusionsquoten führen?“, fragte der emeritierte Professor für Lernbehinderten- und Inklusionspädagogik Hans Wocken, bereits 2019 in einem Beitrag für „bildungsklick“. „Ganz einfach: Die ‚neuen‘ Förderschüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind nicht ehemalige Sonderschüler, sondern sie kommen fast ausschließlich aus den Regelschulen selbst.“

Das bestätigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung von 2020. Mit Blick auf ganz Deutschland heißt es darin: „Die gestiegene Inklusionsquote an allgemeinen Schulen hat dazu geführt, dass sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Jahren seit 2008/09 um 150.400 Kinder und Jugendliche erhöht hat. Nur ein Teil von ihnen – nämlich 43.957 – ist auf die Verringerung der Exklusionsquote zurückzuführen“, so heißt es dort unter Bezug auf den Anteil der Kinder und Jugendlichen, die eine Förderschule besuchen.

„Das Geheimnis der Inklusionsquote ist in Wahrheit eine unkontrollierte und ausufernde Etikettierungsschwemme“

Warum aber gibt es mehr Kinder und Jugendliche mit Förderstatus? Diese Problem- und Risikoschüler würden, so Wocken, „per großherziger sonderpädagogischer Diagnostik“ als Schülerinnen und Schüler „mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ identifiziert und etikettiert. Weil die neuen, etikettierten Förderschüler aber in den Regelschulen verblieben, würden sie als „inkludiert“ gelten – und für politisch gewollt hohe Inklusionsquoten sorgen. „Das Geheimnis der Inklusionsquote ist in Wahrheit eine unkontrollierte und ausufernde Etikettierungsschwemme“, schreibt Wocken – und spricht von einer „Pseudo-Inklusion“.

Warum sollten die Schulen bei diesem Spiel mitmachen? Wocken erklärt: „Der wichtigste Grund für leichtfertige und freizügige Etikettierungen dürfte das Bemühen um zusätzliche personelle Ressourcen sein, insbesondere um zusätzliche Sonderpädagogen-Stunden. Für diagnostisch nachgewiesene Förderbedarfe können bekanntermaßen zusätzliche Fördererressourcen reklamiert und akquiriert werden.“

Die Bertelsmann Stiftung hält das für glaubwürdig – sieht aber darüber hinaus zwei mögliche Ursachen für die Vermehrung der Förderschüler. In zahlreichen Ländern sei die Ressourcenzuweisung an allgemeine Schulen tatsächlich an die Zahl der dort diagnostizierten Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf gekoppelt. „Dieser Zusammenhang könnte dazu verleiten, einen solchen Förderbedarf bei zusätzlichen Schülerinnen und Schülern zu diagnostizieren, um damit die an den einzelnen Schulen verfügbaren Lehrerstellen zu erhöhen – nicht zuletzt zugunsten eben dieser Kinder und Jugendlichen.“

„Lehrkräfte könnten aufmerksamer und individualisierender auf einzelne schwächere Schüler blicken“

Gleichzeitig könne es aber auch sein, dass sich die Diagnosekompetenzen von Lehrkräften verbessert hätten. „Der Anstieg der diagnostizierten Fälle könnte eine Folge der Tatsache sein, dass im Verlauf des Ausbaus inklusiven Unterrichtens in den allgemeinen Schulen Lehrkräfte aufmerksamer und individualisierender auf einzelne schwächere Schülerinnen und Schüler blicken – also auf diejenigen Kinder und Jugendlichen, die ‚immer schon‘ in allgemeinen Schulen unterrichtet wurden. Dieses genauere Hinsehen wäre sehr wünschenswert.“ Darüber hinaus sei möglich, dass entsprechende Diagnosen in Zeiten der Inklusion weniger stigmatisierend wirkten – und deshalb weniger Vorbehalte bei Eltern und Lehrkräften bestünden.

So oder so – die Zahl der exkludierten Schülerinnen und Schüler wächst: Von den 144.280 Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in NRW wurden im vergangenen Schuljahr knapp 80.000 an Förderschulen unterrichtet (was einem Plus von 2,1 Prozent gegenüber dem Schuljahr 2020/21 entspricht). Übrigens: Davon waren zwei Drittel Jungen. News4teachers

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