MÜNCHEN. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) hält die Situation an den Schulen im Freistaat für verheerend. Als Hauptgrund nennt Verbandspräsidentin Simone Fleischmann das Fehlen von 4000 Lehrkräften an Grund-, Mittel- und Förderschulen. «Es fällt Unterricht aus. Es werden Stunden gestrichen. Kinder werden eher nach Hause geschickt. Hinten und vorne reichen uns die Lehrkräfte nicht für die Regel-Angebote, geschweige denn für Angebote, die nach dieser anstrengenden Corona-Zeit dringend notwendig wären», sagte sie am Montag in München.
«Kurz vor Schulstart sehen wir: Größere Klassen, Kürzungen bei unterschiedlichen Fächern wie Musik, Kunst oder Sport, bei Förder- und Differenzierungsangeboten, bei Arbeitsgemeinschaften und vielem mehr», so erklärte Fleischmann. Jetzt stünden nicht nur die wichtigsten pädagogischen Errungenschaften, wie die Inklusion, der Ganztag, die Integration, die individuelle Förderung und die ganzheitliche Bildung auf dem Spiel. «Das bildungspolitische Streichkonzert greift auch die Kernbereiche des Unterrichts und die grundlegenden Strukturen der schulischen Bildung an.»
Fleischmann forderte die Staatsregierung auf, die Bildung in Bayern zur Chefsache zu machen. Ein entsprechender Appell sei bislang nicht gehört worden. Der Verband spricht von Planungen auf Minimalniveau im neuen Schuljahr, das am morgigen Dienstag beginnt. Viele Schulen hätten noch letzte Woche beklagt, dass die Erstellung von Stundenplänen nicht möglich war, weil die Lehrkräfte und das sonstige Personal noch nicht zugewiesen waren.
«Krankheitsausfälle wegen Corona werden noch hinzukommen und weitere Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine womöglich auch»
Die nun notwendigen Maßnahmen gingen zuerst auf Kosten der Schwächsten, «und das, obwohl wir schon so viele Defizite in unterschiedlichsten Bereichen bei den Kindern und Jugendlichen aus den beiden Corona-Jahren auffangen müssen», sagte Fleischmann. Zudem fehle eine verlässliche Halbtagsgrundschule, wenn der Unterricht gekürzt werde. «Kinder, die schon um 11.20 Uhr aus der Grundschule nach Hause kommen, machen die Berufstätigkeit der Eltern nur mehr eingeschränkt möglich.»
Wie kommt der BLLV auf 4.000 fehlende Lehrkräfte in Bayern? Das Kultusministerium hatte eingeräumt, dass aktuell einige Hundert Vollzeitlehrerstellen (Vollzeitkapazitäten, VZK) nicht besetzt werden könnten – der Verband geht von knapp 1.000 aus. Schon 2020/21 seien allerdings bereits dienstrechtliche Maßnahmen ergriffen worden (wie Arbeitszeitkonten), um 800 VZK notdürftig zu gewinnen. Darüber hinaus wurden 2021/22 rund 650 VZK durch anderes Personal ersetzt. Zusätzlich würden im kommenden Schuljahr rund 1.500 VZK – hauptsächlich schwangere Kolleginnen und Langzeitkranke – dauerhaft fehlen.
«Oftmals ist die mobile Reserve jetzt schon komplett aufgebraucht oder konnte erst gar nicht vollständig gebildet werden»
«Zählt man all das fehlende Personal zusammen, dann sind es etwa 4.000 Lehrkräfte, die uns jetzt an den Grund-, Mittel- und Förderschulen fehlen, um gute Schule mit professionell ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern gestalten zu können. So starten wir jetzt ins Schuljahr. Und die Situation wird sich im Laufe des Schuljahres weiter verschlechtern. Denn oftmals ist die mobile Reserve jetzt schon komplett aufgebraucht oder konnte erst gar nicht vollständig gebildet werden. Krankheitsausfälle wegen Corona werden noch hinzukommen und weitere Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine womöglich auch», erklärte Fleischmann.
Das Kultusministerium wertet die Situation bei der Zahl der Lehrer und Lehrerinnen anders als der BLLV. Das Verhältnis Schüler pro Lehrer habe sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, sagte ein Sprecher auf Anfrage. Er verwies auf das Schuljahr 2016/2017. Damals habe es in etwa gleich viele Schüler wie heute gegeben, rund 1,68 Millionen. «Heute wird dieselbe Anzahl an Schülern mit 7000 Lehrerstellen mehr unterrichtet», erläuterte der Sprecher. News4teachers / mit Material der dpa
Der BLLV hat Stimmen aus Schulen gesammelt. Zitate von Lehrkräften und Schulleitungen:
- “Fachfremdes, teilweise ungeeignetes, sogar unfähiges Personal mit überwiegend ganz wenigen Stunden muss so verteilt werden, dass möglichst wenig Schaden entsteht. Erfahrene, gestandene Lehrkräfte müssen deshalb aus der Klasse, müssen die Schule wechseln, müssen für andere mitarbeiten, werden hin und her geschoben. Erfahrene Inklusionslehrkräfte von Profilschulen müssen in die Mobile Reserve, um Platz für weitaus weniger geeignetes Personal, das zusätzlich versorgt werden muss, zu schaffen.” Eine Kreisvorsitzende des BLLV
- “Wir haben zu wenige Klassenleitungen mit ausreichend Stunden (Vollzeitlehrkräfte). Drei Kolleginnen in Teilzeit/Elternzeit aus der Mobilen Reserve müssen sich mit 8 bzw. 6 Stunden eine Klassenleitung teilen.” Eine Schulleiterin aus Oberbayern
- “Die Planungen gestalten sich zum Schuljahresbeginn wesentlich komplexer und hypothetischer als jemals zuvor. Zahlreiche Informationen vom Schulamt, die übermittelt wurden, haben in der Praxis nicht standgehalten. Bis zum heutigen Tag laufen die Verhandlungen mit teilabgeordneten Lehrkräften von anderen Schulen, Koordinatoren von Bildungsträgern und zahlreichen Honorarkräften um Einsatzmöglichkeiten des pädagogischen Personals, um den Unterricht ab der kommenden Woche abbilden zu können. Der Markt ist leer!” Ein Schulleiter einer Mittelschule aus Schwaben
- “Das Personal an unseren Schulen wird immer mehr eine Art Multi-Kulti-Truppe. Der Stundenplan und die Unterrichtsverteilung orientieren sich zwangsläufig daran. Die Einsatzmöglichkeiten der ‚echten Lehrer‘ bewegen sich immer mehr in Richtung Kernfächer.” Ein Schulrat aus Niederbayern
- “Die Planung wurde auf das absolute Minimum heruntergefahren. Keine Differenzierung in großen Klassen, kein geteilter Förderunterricht und große Gruppen im Fachunterricht.” Ein Schulrat aus Mittelfranken
- “Klassen, in denen wir mehr als 50 Prozent Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund haben, konnten durch den Personalmangel nicht geteilt werden.” Ein Bezirksvorsitzender des BLLV
- “Ukrainische Kinder in der Grundschule dürfen nur in der 1. Jahrgangsstufe in der ASV [Schulverwaltungssoftware] geführt werden. Von der 2. bis zur 4. Jahrgangsstufe dürfen die Kinder nicht eingetragen werden. Das führt dazu, dass zum Beispiel Klassen mit 26 Schülerinnen und Schülern auf dem Papier effektiv bis 28 Schülerinnen und Schüler aufgefüllt werden.” Eine Schulleiterin aus Schwaben
- “Schulleitungen haben jetzt eine weitere Stunde Leitungszeit bekommen. Jetzt dürfen Sie aber bei der Berechnung die Flüchtlingskinder nicht mitzählen. Gerade die Kinder, die viel Arbeit durch die fremde Sprache, Neuaufnahme etc. erzeugen, sind ausgenommen. Ich bekomme jetzt weniger Leitungszeit als vor den ‚Segnungen‘.” Ein Schulleiter aus Oberfranken
- “Es gibt völlig nicht-vorgebildetes Personal, das intensive Einführung und Begleitung braucht.” Eine Bezirkspersonalratsvorsitzende
- “Als fachlich vorgebildetes Personal haben wir z.B. eingestellt: eine Diplom-Grundschullehrerin aus Russland, einen Master-Absolventen Soziale Arbeit, eine kirchliche Religionslehrerin in Rente ohne Studium, einen Master-Absolventen Sozial- und Wirtschafts-Wissenschaft, eine Diplom-Sozialpädagogen, einen Psychologie-Bachelor-Studierenden aus England, einen Mediatoren, eine Trainerin, eine Diplom-Sozialwirtin, einen klinischen Heilpädagogen mit Master-Abschluss, eine Übersetzerin, einen Politikwissenschaftler, eine Diplom-Berufspädagogin Fachrichtung Bautechnik, eine Diplom-Biologin, einen Tennislehrer, eine Hauswirtschaftskraft, einen Virologen, eine Bachelor-Absolventen Deutsche Philosophie, eine Kultur-Wissenschaftlerin, einen Lebensmitteltechnologen, einen Diplom-Chemiker, einen Diplom-Designer, einen B-Trainer Leichtathletik, einen Industriemeister Chemie, eine Diplom-Betriebswirtin.” Ein Bereichsleiter einer Regierung in Bayern
- “Die vierte Englisch-Stunde in den M-Klassen wurde gestrichen.” Eine Schulleiterin einer Mittelschule aus Unterfranken
- “Insgesamt könnte das Kartenhaus am ersten Schultag halten – es steht in jeder Klasse eine Person, wenn auch keine ausgebildete Lehrkraft. Sobald aber weitere Schwangerschaften und Krankheitswellen kommen, ist es vorbei.” Eine Bezirkspersonalratsvorsitzende
- „Die Mobile Reserve wurde mit 568 Stunden gebildet. Davon sind 300 Stunden nicht einsatzfähig, womit effektiv 268 Stunden nutzbar sind. Von diesen wiederum sind größtenteils bereits jetzt alle vergeben. Zum Schuljahresbeginn stehen also tatsächlich nur 40 – 50 h für kurzfristige Ausfälle zur Verfügung.” Ein Kreisvorsitzender aus Niederbayern
- “Allein am heutigen Tag kamen vier neue Kinder aus der Ukraine. Die Deutschklasse an unserer Schule ist mit aktuell 20 gemeldeten Kindern übervoll. Die tatsächliche Zahl der zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler sehen wir am ersten Schultag!” Ein Schulleiter einer Mittelschule aus Schwaben
- “Aus unserer Sicht fehlen zu Beginn des Schuljahres allein in Unterfranken mindestens 700 Lehrerinnen und Lehrer. Diese würden gewährleisten, dass ordentlicher Unterricht (kein bestens ausgestatteter!) gehalten werden könnte. Schlimm dabei: Wir sind durch die vielen Mangeljahre derart sediert, dass wir schon gar nicht mehr wissen, wie es eigentlich ist, wenn es normal ist.” Ein Bezirksvorsitzender des BLLV
- “In vielen Klassen hätten wir keinen Klassenleiter, wenn nicht viele Schulen in ihren Stundentafeln „tricksen“ würden. Einige Beispiele: Einschränkung des Unterrichts in WG durch epochalen Unterricht; Wegfall der 3. Religionsstunde an etlichen Grundschulen; Wegfall der 3. Sportstunde an etlichen Grundschulen; Zusammenfassung von Schülern in übermäßig großen Lerngruppen; Einsparungen im Bereich Informatik. Bei uns macht dieses Streichkonzert alleine schon mal 150 Stellen aus.” Ein Bezirksvorsitzender des BLLV
GEW: „Das Schuljahr beginnt mit einer Bankrotterklärung des Kultusministers“