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Internationaler Vergleich: Fast ein Viertel der Schüler in Deutschland erreicht die Mindeststandards nicht – mehr als in Russland  

MÜNCHEN. In Deutschland ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, denen grundlegende Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen fehlen, mit 23,8 Prozent relativ groß. Das zeigt ein internationaler Vergleich, den das Münchner ifo Institut auf der Grundlage von Schulleistungsstudien wie PISA und TIMSS vorgenommen hat. Deutschland landet dabei gerade mal auf Platz 30 – noch hinter Russland.

Trotz aller Mühen in der schulischen Praxis: Es geht abwärts. Illustration: Shutterstock

Weltweit erreichen zwei Drittel der Jugendlichen keine grundlegenden Fähigkeiten, die in der Schule vermittelt werden sollen. Das geht hervor aus einer neuen Studie des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. „Das sind erschreckende Zahlen“, sagt Prof. Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. In Deutschland beträgt der Anteil 23,8 Prozent, in Österreich 24,6 und in der Schweiz 21,9 Prozent, aber zum Beispiel in Estland nur 10,5 Prozent. Das verschenkte Potenzial hat ökonomische Folgen. „Alles in allem entgeht der Welt eine Wirtschaftsleistung über das verbleibende Jahrhundert von über 700 Billionen Dollar“, sagt ifo-Forscherin Sarah Gust.

„Die Welt ist extrem weit davon entfernt, die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu erreichen“

Die Spanne reicht von 24 Prozent in Nordamerika und der Europäischen Union bis 89 Prozent in Südasien und 94 Prozent im Afrika südlich der Sahara. In 101 Ländern beträgt der Anteil über 50 Prozent und in 36 Ländern sogar über 90 Prozent. China schneidet am besten ab – mit einem Anteil von zu schwachen Schülerinnen und Schülern von nur 6,5 Prozent, gefolgt von Macau (6,9 Prozent) und Singapur (8,1 Prozent). Auf Platz vier: mit Estland das beste europäische Land (10,5 Prozent), gefolgt von Hong Kong (11,0) und Japan (12,7). Lichtenstein mit 14,5 und Finnland mit 14,7 Prozent folgen.

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Deutschland belegt mit einer Quote von 23,8 Prozent Platz 30 – hinter Großbritannien (19,0 Prozent), Schweden (19,2 Prozent), den Niederlanden (19,4 Prozent), Frankreich (22,2 Prozent), Portugal (22,7 Prozent) und Russland (23,7), gleichauf mit Spanien, vor den USA (24,7 Prozent) und der Türkei (34,2 Prozent). „Die Welt ist extrem weit davon entfernt, die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu erreichen“, sagt Ludger Wößmann. „Das ist deshalb so tragisch, weil Bildung nicht nur für das persönliche Schicksal bedeutsam ist, sondern der langfristig wichtigste Beitrag zum Wirtschaftswachstum ist, und nicht Straßen, Eisenbahnen oder Glasfaserverbindungen.“

Für die neue Studie haben die Forscher des ifo Zentrums für Bildungsökonomik zusammen mit dem Ökonomen Prof. Eric A. Hanushek von der Stanford University individuelle Schülerdaten zahlreicher internationaler und regionaler Leistungstests in Mathematik und Naturwissenschaften auf eine vergleichbare globale Messskala gebracht. Grundlegende Fähigkeiten werden dabei mit der untersten PISA-Kompetenzstufe 1 definiert. Dazu gehört es beispielsweise, einfache und eindeutige Routineaufgaben zu lösen, nicht aber, einfachste Formeln anzuwenden, Schlussfolgerungen abzuleiten oder Ergebnisse interpretieren zu können.

“Die in der Schule vermittelten grundlegenden Fähigkeiten sind die Basis des zukünftigen Wohlstands in Deutschland insgesamt“

Schon im Oktober hatte das ifo-Institut angesichts der Ergebnisse der IQB-Studie, die ein drastisches Absinken des Leistungsniveaus bei Viertklässlern nahezu bundesweit aufzeigt, Alarm geschlagen. „Die starken Rückstände sind beunruhigend. Denn die in der Schule vermittelten grundlegenden Fähigkeiten sind die Basis der zukünftigen Lebenschancen der Kinder und des zukünftigen Wohlstands in Deutschland insgesamt“, sagte ifo-Bildungsexperte Wößmann. „Solch einen Rückgang wie jetzt hat es noch nie gegeben.“

Auch der hat ökonomische Folgen – langfristige: Der Lernverlust von einem Drittel Schuljahr gehe über das gesamte Berufsleben gerechnet im Durchschnitt mit rund 3 Prozent geringerem Erwerbseinkommen einher, rechnete Wößmann vor. Für die Volkswirtschaft insgesamt könnte das zu einem um durchschnittlich 1,5 Prozent niedrigeren Bruttoinlandsprodukt über den Rest des Jahrhunderts führen. Der Rückgang der Ergebnisse sei nur zum Teil ein Resultat der Corona-Pandemie und bilde zum Teil auch einen schon länger anhaltenden Abwärtstrend ab.

„Diese riesigen Lernrückstände werden nicht einfach weggehen. Sie werden hohe Folgekosten haben, wenn wir nicht umgehend gegensteuern. Wir müssen als Gesellschaft unbedingt darauf achten, dass sich die Lernergebnisse der Kinder und Jugendlichen verbessern“, fügte Wößmann hinzu. Der Schulbesuch und der Erwerb von Kompetenzen habe einen positiven Einfluss auf den Wohlstand der Schüler und der Gesellschaft. Dieser Zusammenhang sei von der Wirtschaftsforschung so gut belegt wie kaum etwas anderes.

Bemerkenswert sei, dass Hamburg als einziges Bundesland das Niveau im 10-Jahres-Vergleich halten konnte. Das könne damit zu tun haben, dass Hamburg regelmäßige Leistungstests und eine Strategie der datengestützten Verbesserungen eingeführt hat. „Dies sollte ein Vorbild für die anderen Bundesländer und für Deutschland insgesamt sein“, sagte Wößmann. Die Lernverluste seien unter benachteiligten Kindern besonders groß, so dass die Ungleichheit weiter angestiegen sei. Gleichwohl hätten auch Kinder aus sozial besser gestellten Familien und ohne Migrationshintergrund verloren.

Die Ergebnisse liegen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der Grundschule zwischen einem Viertel und einem Drittel Schuljahr hinter dem Niveau von vor fünf Jahren. Im Vergleich zu vor zehn Jahren entsprechen die Verluste sogar einem halben Schuljahr. Alle Bundesländer außer Hamburg weisen bedeutsame Verluste auf. News4teachers

Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen.

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