BERLIN. Die Kita-Schließungen hätten nicht sein müssen – erklärt der Bundesgesundheitsminister nun unter Berufung auf eine neue Studie, die von zwei Bundesministerien finanziert wurde. Erstaunlich ist allerdings, dass in der Untersuchung Infektionen unter Kita-Beschäftigten kaum eine Rolle spielen. Die Corona-bedingt verstorbenen Erzieher/Lehrkräfte tauchen in dem Bericht gar nicht auf. Auch die Kernfrage, inwieweit Kitas zum gesamten Infektionsgeschehen beigetragen haben, wird in dem Papier nur gestreift.
Die Kita-Schließungen in den ersten Corona-Wellen sind nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unnötig gewesen. «Das Schließen von Kitas ist definitiv medizinisch nicht angemessen und wäre auch in dem Umfang, wie wir es damals gemacht haben, nach heutigem Wissen nicht nötig gewesen», sagt der SPD-Politiker. «Es wird keine Schließungen dieser Art mehr geben.» Lauterbach äußerte sich anlässlich der Veröffentlichung des Abschlussberichts der «Corona-Kita-Studie» gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne).
Die von beiden Ministerien finanzierte und vom Deutschen Jugendinstitut und Robert Koch-Institut durchgeführte Studie lief von Sommer 2020 bis Juni dieses Jahres. Untersucht wurden die Auswirkungen von Infektionen und Corona-Maßnahmen auf Kindertagesbetreuung, Kinder und Familien aus verschiedenen Blickwinkeln.
«Ich bleibe dabei, eine Durchseuchung mit der Omikron-Variante wäre für die Kinder, wie aber auch für die Erwachsenen in keiner Weise verantwortbar»
Nicht untersucht wurde, inwieweit Kita-Personal besonderen Gesundheitsrisiken ausgesetzt war. Das ist erstaunlich: Mehrere Untersuchungen von Krankenkassen kamen – unter Einbeziehung von Versichertendaten – zu dem Schluss, dass Erzieherinnen und Erzieher eine der am meisten durch Corona belasteten Berufsgruppen sind, gleichauf mit Angehörigen der Gesundheitsberufe (News4teachers berichtete). Bis Oktober 2021 meldete das Robert-Koch-Institut mindestens 35 Corona-bedingt verstorbene Erzieher/Lehrkräfte (News4teachers berichtete auch darüber) – kein Wort dazu im Bericht.
Inwieweit haben Kitas zum Infektionsgeschehen in Deutschland beigetragen? «Zwischen KW 36/2020 und KW 22/2022 (31.08.2020–05.06.2022) wurden insgesamt 11.360 Kita-Ausbrüche an das RKI übermittelt (Datenstand: 13.06.2022)», so heißt es in dem Papier. Die Dunkelziffer dürfte aber deutlich höher sein. «Basierend auf den Daten des KiTa-Registers identifizierten wir 3.303 potenzielle Ausbrüche, was hochgerechnet einer Zahl von bundesweit insgesamt 47.238 geschätzten potenziellen Kita-Ausbrüchen entspricht.»
Rückblickend sagt Lauterbach, der zur Zeit der Schließungen noch nicht Gesundheitsminister war, aber als SPD-Gesundheitsexperte in der gemeinsamen Regierung mit der Union an wichtigen Entscheidungen beteiligt, er halte nichts von Schuldzuweisungen. Bundesregierung und Länder hätten das damals gemeinsam beschlossen. Jetzt sei man mit neuen Erkenntnissen zu dem Schluss gekommen, es wäre nicht nötig gewesen. Das müsse man nutzen, um nach vorne zu denken.
Eine bemerkenswerte Wende: Lauterbach selbst hatte immer wieder schärfere Schutzmaßnahmen für Kitas und Schulen gefordert. «Ich bleibe dabei, eine Durchseuchung mit der Omikron-Variante wäre für die Kinder, wie aber auch für die Erwachsenen in keiner Weise verantwortbar», so erklärte er noch im Januar (was News4teachers ebenfalls berichtete).
Paus sagte, Kinder hätten in der Pandemie oft weniger am Virus selbst als an den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen gelitten. «In Zukunft muss das Kindeswohl unbedingt an oberster Stelle stehen.» Kinder, die am meisten von frühkindlicher Bildung und Förderung profitieren könnten, trügen der Studie zufolge besonders schwer an den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen. «Kitas mit hohem Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien haben jetzt einen fast doppelt so hohen Förderbedarf bei Sprache, bei Motorik und bei der sozialen und emotionalen Entwicklung wie vor der Pandemie.»
«Orte der Kindertagesbetreuung sind vom Infektionsgeschehen nicht ausgenommen»
Für den Bericht wurden keine eigenen Daten erhoben, sondern auf die lückenhaften Daten von Gesundheitsämtern sowie einzelner kleiner Stichproben rekurriert. Ermittelt wurde, wie oft Kinder im Kita-Alter an Corona erkranken, wie empfänglich sie für das Virus sind und wie schwer die Krankheitsverläufe sind. Daneben wurden Kita-Leitungen, Fachkräfte und Eltern zu Erfahrungen mit Corona-Schutzmaßnahmen, zur Betreuungssituation und zu möglichen psychosozialen Belastungen befragt. In einer telefonischen Nachbefragung ging es auch darum, ob und wie sehr infizierte Kinder länger mit Beschwerden zu tun haben oder hatten – Stichwort Long Covid.
Einige Ergebnisse:
- Die festgestellten Ansteckungszahlen in Kitas folgten eher denen in der Gesamtgesellschaft als umgekehrt. Die Inzidenz blieb durchgängig unterhalb der Inzidenz älterer Kinder und Jugendlicher (allerdings gab es in Kitas, anders als in Schulen, keine Testpflicht). «Kitas waren keine Infektionsherde», behauptet Lauterbach heute trotzdem. Er spricht von deutlich unterdurchschnittlichen Übertragungsraten in Kitas im Vergleich zu Familien.
- Tatsächlich ist in den Bericht dazu eine Untersuchung eines Ausbruchs eingeflossen. Ergebnis: «Insgesamt wurden in zwölf der 22 Haushalte Ansteckungen bei weiteren Haushaltsmitgliedern beobachtet, und zwar insgesamt bei 24 aller 45 Kontaktpersonen. Im Mittel wurden somit 53,3 % aller Haushaltskontakte angesteckt.»
- Mit Corona infizierte Kinder im Kita-Alter zeigten meist wenige oder gar keine Symptome, am häufigsten Schnupfen. Der Anteil der im Krankenhaus behandelten Kinder lag im Vergleich zu älteren Altersgruppen auf einem niedrigen Niveau. In einer Nachbefragung zeigte sich, dass zuvor infizierte Kita-Kinder nicht häufiger Langzeit-Beschwerden hatten als Kinder ohne Corona-Infektion aus derselben Kita. Dieser Befund müsse aber in größeren Studien weiter untersucht werden, heißt es.
- Die drei Kita-Schließungsphasen während der Pandemie führten zu mehrmonatigen Betreuungsausfällen für viele Kinder. Der niedrigste Wert wurde im Januar 2021 gemessen, als nur 45 Prozent der Kinder im Vergleich zur Zeit vor Corona betreut wurden.
- Die in der Studie befragten Eltern schätzten das Wohlbefinden ihrer Kinder geringer ein, wenn sie aufgrund der Schließungsphasen ihre gewohnte Kindertagesbetreuung nicht nutzen konnten. Von Kita-Ausfällen betroffene Eltern hatten nach eigenen Angaben mehr Stress, insbesondere Alleinerziehende und Familien, in denen beide Elternteile erwerbstätig waren.
- Kita-Leitungen berichteten von Ansteckungsängsten bei den Beschäftigen, gestiegenen Belastungen und auch verschlechterten Beziehungen zu Eltern etwa durch eine wiederkehrende Einführung und Aufhebung von Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht, Betretungsverbote für Eltern oder regelmäßige Tests.
- 43 Prozent der Kita-Leitungen sahen im Frühjahr 2022 gestiegene Förderbedarfe in der sprachlichen Entwicklung, 46 Prozent in der motorischen Entwicklung und 58 Prozent in der sozio-emotionalen Entwicklung ihrer betreuten Kinder. In Einrichtungen mit einem größeren Anteil an Kindern aus benachteiligten Verhältnissen war der Anteil höher.
Das Fazit des Bundesgesundheitsministers, Kita-Schließungen seien unnötig gewesen, findet sich in dem Bericht übrigens nicht. Darin heißt es vielmehr: «Orte der Kindertagesbetreuung sind vom Infektionsgeschehen nicht ausgenommen und müssen in die Planungen zur Eindämmung eines Infektionsgeschehens mit ihren organisationalen und personalen Besonderheiten berücksichtigt werden.» News4teachers / mit Material der dpa
Hier geht es zum vollständigen Bericht.