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Streit um IQB-Studie: Was (wirklich) für den Absturz der Leistungen von Grundschülern maßgeblich ist – ein Gastbeitrag

BERLIN. Der IQB-Vergleich der Leistungen von Viertklässlerinnen und Viertklässlern hat bei Erscheinen – zunächst im Sommer in Kurzform, im Herbst dann ausführlich – für einen Schock gesorgt. Kein Wunder: Attestiert wird in fast allen Bundesländern ein deutlicher Absturz. Doch was sind die Ursachen? Unser Gastautor, der Pädagoge Michael Felten, macht drei Punkte aus, die seiner Meinung nach bislang in der Diskussion zu kurz kommen.

Die Leistungen der Grundschülerinnen und Grundschüler lassen zu wünschen übrig. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Tabus in der Debatte zum IQB-Bildungstrend?

Gastbeitrag von Michael Felten

Der Kurzbericht zum IQB-Bildungstrend 2021 ließ Böses ahnen, wurde aber zu Sommerbeginn kaum beachtet. Um die Schulleistungen deutscher Viertklässler in Deutsch und Mathematik sei es zunehmend schlecht bestellt. Nun ruft uns der Gesamtbericht noch einmal in Erinnerung: Nach einem Anstieg bis 2011 gingen die mittleren Kompetenzwerte in den meisten Bundesländern schon bis 2016 deutlich zurück und sanken dann noch einmal bis 2021 erheblich. Zwar erzielten Schüler in Bayern und Sachsen in allen Teilbereichen erneut überdurchschnittliche Leistungen, gehörte NRW mit Berlin und Bremen wiederum zu den Schlusslichtern im Bundesranking – aber eben alles auf stark gesunkenem Niveau. “Besorgniserregend” – so äußern sich Wissenschaftler selten.

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Über den Autor
Michael Felten. Foto: privat

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten hat mehr als 30 Jahre an einem Gymnasium unterrichtet und ist jetzt als freier Schulentwicklungsberater tätig. Er publiziert unter anderem in der “Zeit” und auf dem “Deutschen Schulportal”.

Letzte Veröffentlichungen: “Die Inklusionsfalle” (Gütersloh 2017) sowie “Unterricht ist Beziehungssache” (Reclam 2020).

Online: www.eltern-lehrer-fragen, www.inklusion-als-problem.de, “FeltensLehrerClips” bei YouTube und Lehrer_Felten_empfiehlt bei Instagram.

Da dieser Negativtrend schon zehn Jahre lang anhält, können die Auswirkungen von Pandemie (ab März 2020) oder Integration (seit September 2015) nur teilerklärend sein. Offenbar geht’s nicht nur um zeitweilige Lernlücken, etwas Grundsätzlicheres scheint faul zu sein. Dass der zunehmend eklatante Lehrermangel, diese Todsünde früherer Kultusminister, die Lernqualität dämpft, scheint offensichtlich. Ob mehr systematische Sprachförderung in Kitas Abhilfe schaffen könnte, wird diskutiert – dem Schulpsychologen Prof. Rainer Dollase erscheint dies fraglich (hier sein Statement). Über drei andere Einflüsse wurde indes kaum diskutiert – als gäbe es auch im Bildungswesen Tabuzonen.

Fortschreitende Inklusion?

So hatte die derzeitige KMK-Präsidentin Karin Prien kürzlich „die fortschreitende Inklusion“ als eine mögliche Erklärung für sinkende Kompetenzen von Viertklässlern ins Spiel gebracht. Aber das war wohl zu viel Diskurs – jedenfalls stimmten 4 Wissenschaftler im Spiegel eine vehemente Gegenrede an. Inklusion sei tatsächlich gar nicht fortgeschritten, und gemeinsamer Unterricht habe neutrale bis positive Auswirkungen auf Regelschüler.

Das grenzt an ein Wedeln mit Fakes. Denn seit 2011 stieg die Inklusionsquote stetig. Und die Leistungseffekte von Gemeinsamem Lernen beurteilt die Forschung reichlich uneinheitlich; mal waren zudem Leuchtturm-Ressourcen im Spiel, mal nur ‚leichtere Fälle‘ einbezogen (BeLieF), mal fehlte eine Kontrollgruppe (RIM). Überhaupt ist das Hantieren mit Landesmittelwerten bezüglich Folgen der Inklusion irreführend, so obiges Statement von Rainer Dollase: “Die Belastung durch Inklusion wird dort, wo sie vorkommen kann, durch die Verrechnung mit (fast) inklusionsfreien Schulen aus ideologischen Gründen banalisiert.” “Liebe Lernbehinderte” seien für den Lernfortschritt in Klassen kein Problem – aber ein einziges verhaltensauffälliges Kind ohne angemessene Betreuung könne den ganzen Laden lahm legen.

Der schulischen Alltagserfahrung würde völlig zuwiderlaufen, wenn – angesichts fehlender Sonderpädagogen und unterqualifizierter Regellehrkräfte – inklusiver Unterricht die tägliche Förder- und Unterrichtsqualität an Regelschulen gar nicht beeinträchtigen würde. Das aber – und auch die Belastung und Erschöpfung der Lehrerschaft – zu beschweigen, halte ich für riskant. So kann die öffentliche Zustimmung zur Inklusion – und übrigens auch der Zustrom zum Lehrberuf – nur Schaden nehmen.

Unbrauchbare Unterrichtsmethoden?

Bereits im Juli hatten mehrere Lehrerverbände gefordert, auch Defizite in der Unterrichtsqualität in den Blick zu nehmen (news4teachers berichtete). Die hochschulseitig aktuell propagierte Grundschuldidaktik sei fast schon eine “Didaktik der Verwahrlosung”: Fehler würden nur noch ansatzweise korrigiert und setzten sich daher in den Köpfen der Kinder fest; von der Lehrkraft angeleitete Phasen gemeinsamer Erarbeitung würden als lehrerzentriert gegeißelt; und von ausreichendem Üben beim Rechnen wolle man gar nichts mehr wissen. Auch hier schlugen die Wogen zunächst hoch – “typisch Philologen” oder “rückwärtsgewandt” hieß es wohlfeil.

Tatsächlich haben bereits mehrere Bundesländer die Methode ‘Schreiben nach Gehör’ mittlerweile verboten, moderner Fibelunterricht hat sich empirisch als überlegen erwiesen. Aber diese Kehrtwende begann erst 2017, und manche Lehrkraft ist immer noch nicht überzeugt. Dagegen steht selbstgesteuertes Lernen (oder: eigenverantwortliches Arbeiten) bei Lehrkräften wie Lehrerausbildern weiterhin hoch im Kurs – obwohl gerade dieses Prinzip vor allem jüngere und schwächere Schüler schnell überfordert. Stolz werden ‘Lernlandschaften’ eröffnet, in denen es weniger Stühle als Kinder gibt – um die ‘autonomen Lerner’ in Bewegung zu halten. “Selbst” klingt einfach spontan gut – dabei hat pikanterweise das Verfahren Direkte Instruktion von allen Grobformen des Unterrichts nachweislich die höchste Effizienz. Gemeint ist nicht monotoner Frontalunterricht, sondern abwechslungsreiche lehrergeleitete Lehr-Lern-Sequenzen – etwas Neues erklären, es individuell erproben lassen, gemeinsam Fragen erörtern, gründlich üben. Wer wirklich “niemanden zurücklassen” möchte, kommt nicht daran vorbei, Kindern vieles vorzumachen, geduldig zu erklären – und Irrtümer unermüdlich zurechtzurücken, einzeln oder auch gruppenweise.

Noch ein Elefant?

Und wer ist der Elefant im Raum, über den völlig geschwiegen wird? Vielleicht ist es uns bereits zu selbstverständlich geworden, vielleicht ahnen wir auch eigenes Beteiligtsein: Aber dass alle ins Bildungswesen Involvierten immer umfassender durch social media absorbiert sind, wird niemand bestreiten können: Das kostet uns immer mehr Zeit – Stunden(sic!), die Eltern bei der erzieherischen Zuwendung fehlen, Lehrkräften bei der unterrichtlichen Vorbereitung, Kindern und Jugendlichen schließlich bei Nachtschlaf, Lernkonzentration oder Bewegung. Tatsächlich verläuft die Ausbreitung des Isolierers und Dauerablenkers Smartphone einigermaßen parallel zum Niedergang schulischer Leistungen in der Primarstufe. Aber in dieser Frage gibt’s interessante Rauchzeichen: Als jetzt ein US-Internat die Handy-Nutzung komplett verbot, zeigten sich die Jugendlichen – nach erstem Schock – geradezu erleichtert und sozial bereichert.

Die Smartphonekultur lässt sich nicht ohne weiteres ändern, die Unterrichtsqualität an Grundschulen schon. Soeben hat die SWK (Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK) ihr Gutachten „Perspektiven für die Grundschule“ veröffentlicht. Zwei dieser Perspektiven haben Sprengkraft: “Erhöhung der Unterrichtsqualität (…), die sich an generischen und an fachdidaktischen Qualitätsmerkmalen guten Unterrichts orientiert” sowie “Qualitätssicherung der analogen und digitalen Lehr-Lernmaterialien, die durch eine unabhängige Einrichtung in ihrer Qualität bewertet werden”. Vor allem für die ‘Schlusslicht-Länder’ gibt’s also viel zu tun!

KMK-Gutachten: Der Grundschule gelingt es in vielen Fällen nicht, grundlegende Kompetenzen an alle Kinder zu vermitteln

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