BERLIN. Schülerinnen und Schüler sind über die sozialen Medien leicht für rechtsextreme Propaganda erreichbar. Die Forderung, dass Schulen dem entgegenwirken sollen, wird zunehmend laut. Aber wie? Wir sprachen mit jemandem, der Lehrkräfte dabei in der Praxis unterstützt: Michael Hammerbacher ist Leiter und Bildungsreferent des Vereins für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (DEVI). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Demokratiebildung sowie der Islamismus- und Rechtsextremismusprävention an Schulen.
News4teachers: Welchen Formen von Rechtsextremismus begegnen Lehrkräfte an Deutschlands Schulen?
Michael Hammerbacher: Unser Arbeitsgebiet liegt in Berlin und Brandenburg und vereinzelt auch in anderen Bundesländern. Hier bekommen wir unsere Rückmeldungen aus den Schulen. Zu einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild gehören nach einem weitgehenden Konsens in der Sozialwissenschaft unter anderem die Zustimmung zu autoritären, nationalistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen und pronazistischen Aussagen. Bei dem Verhalten von Personen wird unterschieden in Wahlverhalten, der Mitgliedschaft, der Gewaltbereitschaft und der Bereitschaft zum Protest und zur Provokation. Kinder und Jugendliche mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild sind in den Schulen sehr selten anzutreffen. Häufiger stimmen sie aber einzelnen rechtsextremen und demokratieablehnenden Aussagen zu und handeln zum Teil auch danach. Die Erscheinungsformen sind je nach Region und Sozialraum unterschiedlich.
News4teachers: Gibt es ein bestimmtes Alter, in dem Kinder bzw. Jugendliche besonders empfänglich sind für rechtsextremes Gedankengut?
Das Projekt “Demokratiekosmos Schule” (DEKOS) soll Lehrkräfte mit Materialien und Informationen insbesondere im wirksamen Umgang mit antidemokratischen Situationen unterstützen – und zeigt dabei auch auf, wie den Phänomenen Antisemitimus und Rechtsextemismus in der pädagogischen Praxis begegnet werden kann.
Mit unterschiedlichen Formaten erhalten Lehrkräfte anwendungsorientiertes Know-how. DEKOS zeigt Wege auf, wie sie sich diesen Herausforderungen stellen und angemessen handeln können.
DEKOS, ein gemeinsames Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Bertelsmann Stiftung, wendet sich an Schulleitungen, Lehrer/innen und Schulsozialarbeiter/innen. Adressiert werden die siebte bis zur 13. Jahrgangsstufe. Da Diskriminierungen in allen Schulsituationen auftreten, betrifft das Thema alle Unterrichtsfächer. DEKOS ist auch geeignet, in Aus- und Fortbildungsbereichen eingesetzt zu werden.
Michael Hammerbacher: Hier hilft ein Blick in die Entwicklungspsychologie und in die Radikalisierungsforschung. Besonders auffällig für Pädagoginnen und Pädagogen werden rechtsextremistische und demokratieablehnende Haltungen, wenn Jugendliche und junge Erwachsene auf der Suche nach Orientierung und sozialem Halt sind. Wichtig sind in dieser Zeit die „peer-groups“ von Kindern und Jugendlichen. Die Inhalte von extremistischen Weltanschauungen sind nicht zu verharmlosen und mit diesen muss sich auseinandergesetzt werden.
In den Grundschulen ist es wichtig, dass die Kinder früh positive Erfahrungen im Umgang mit einer diversen Schülerschaft machen und in eine demokratische Kultur in der Schule hineinwachsen können. Der Einfluss der Elternhäuser muss mitberücksichtigt werden.
News4teachers: Kann man auch zu viel aufklären – sodass bei jungen Menschen eine Übersättigung entsteht?
Michael Hammerbacher: Dies ist eine reale Gefahr, aber es gibt Möglichkeiten ihr zu begegnen. Ich würde empfehlen, bei der Thematisierung von Rechtsextremismus an einzelnen rechtsextremen Aussagen aktuelle Bezüge im Unterricht herzustellen. Diskussionen, an denen Rechtsextreme anzuknüpfen versuchen, sind die um Coronamaßnahmen, um Verschwörungserzählungen oder um die Einwanderungs- und Integrationspolitik. Methodisch sind Aussteiger- und Zeitzeugengespräche sehr erfolgreich. Lebendig kann der Unterricht durch die Einbeziehung von neuen Medien und Social-Media gestaltet werden. Er sollte auf alle Fälle diskursiv gestaltet sein. Zentral ist es hierbei, die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. In allen Bundesländern gibt es dafür gute Unterstützungsangebote, die auch in Anspruch genommen werden sollten.
“Ich sehe eine gewachsene Sensibilität gegenüber rechtsextremistischen und diskriminierenden Haltungen und Handlungen in den Schulen”
News4teachers: Mit welchen pädagogischen Konzepten können Schulen Rechtsextremismus nachhaltig entgegentreten?
Michael Hammerbacher: Gute Präventionsarbeit an Schulen ist eine langfristige Strategie. Diese sollte sowohl die strukturelle Förderung von Demokratie und einer Anerkennungskultur in der Schule als auch die argumentative Auseinandersetzung mit demokratie- und menschenrechtsablehnenden Positionen an der Schule beinhalten.
Leider ist es immer noch oft so, dass Schulen sich dem Thema erst widmen, wenn es einen konkreten Vorfall gibt. Besser ist es schon vorher ein Interventions- und Handlungskonzept unter Einbeziehung der Lehrkräfte, der Schulsozialarbeit, der Eltern und von Schülerinnen und Schülern zu erarbeiten und umzusetzen. Wir beraten hierzu mit einem Modell, das neun Handlungsfelder an einer Schule umfasst. Dazu gehören die Einführung von demokratiepädagogischen Maßnahmen, wie dem Klassenrat und die Unterstützung von Schülervertretungen, die Einbindung der Themen in den Unterricht, klare und einheitliche Regelungen im Umgang mit rechtsextremen Vorfällen und Diskriminierung und die Implementierung als Handlungsfeld im Schulprogramm und einem festen Bestandteil der Schulentwicklung.
News4teachers: Welche Kompetenzen müssen Ihrer Ansicht nach die Lehrkräfte mitbringen, damit die Kinder und Jugendlichen in der Schule eine solide demokratische Erziehung erhalten?
Michael Hammerbacher: Die Erfahrung von positiver Anerkennung und Wertschätzung, von gelungener Beteiligung, von diskursiven Umfeldern in Schulen wirken gegen rechtsextremistische und demokratieablehnende Haltungen bei Kindern und Jugendlichen. Gute Beziehungen mit Lehrkräften, Pädagoginnen und Pädagogen und in der Familie helfen bei der Persönlichkeitsbildung, resilient gegen extremistische Haltungen zu sein und auch um persönliche Einschnitte und Krisen besser zu verarbeiten, die als ein erster Auslöser für Radikalisierungsprozesse gelten.
Die Lehrkraft sollte in der Lage sein, argumentativ, methodisch und persönlich auf solche Vorfälle reagieren zu können. Beim Eintreten für Demokratie und gegen Rechtsextremismus ist die Glaubwürdigkeit und Authentizität der Lehrkraft sehr wichtig. Persönliche Erzählungen, warum dies für sie wichtig ist, unterstützen dies. Weitere Kompetenzen sind ein gutes Basiswissen über demokratie- und menschenrechtsfeindliche Ideologien, ein Gespür für Ungleichwertigkeitsvorstellungen und ein Grundwissen über Radikalisierungsprozesse.
News4teachers: Warum richtet sich das Angebot des DEVI e.V. speziell an Berufsschulen und Oberstufenzentren?
Michael Hammerbacher: Berufsbildende Einrichtungen sind die letzte Möglichkeit in einem Regelsystem, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Maßnahmen der Demokratiebildung und der Rechtsextremismusprävention zu erreichen. Zudem sind hier in einigen Berufsgruppen bei Auszubildenden die Zustimmungswerte zu rechtsextremistischen und demokratieablehnenden Aussagen besonders hoch. Jedoch haben nur wenige Angebote im Themenfeld die berufliche Bildung im Blick. Hier gibt es immer noch große Leerstellen. Daher konzentrieren wir uns in unserer Arbeit auf Berufsschulen und Oberstufenzentren, um hier Lehrkräfte, Schulsozialarbeit und Schülerinnen und Schüler bei ihrem Engagement zu unterstützen. Vieles, was dort entwickelt wird, ist aber auch für alle allgemeinbildende Schulen nützlich und dort anwendbar.
News4teachers: Welche Entwicklung sehen Sie in Bezug auf Rechtsextremismus, Diskriminierung und andere antidemokratische Phänomene an Berufsschulen und in der Gesellschaft allgemein?
“In der Präventionsarbeit müssen Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, Informationen einordnen zu können”
Michael Hammerbacher: Der Rechtsextremismus ist in seiner Argumentation und in seinem Auftreten moderner geworden. Vieles spielt sich in einer Grauzone zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus ab. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch eine in den letzten Jahren gewachsene Sensibilität gegenüber demokratieablehnenden, rechtsextremistischen und diskriminierenden Haltungen und Handlungen in den Schulen.
News4teachers: Welche Rolle spielt die Medienkompetenz der jungen Menschen beim Erkennen von antidemokratischen Tendenzen und somit bei der Stärkung von Demokratie in der Gesellschaft?
Michael Hammerbacher: Medienkompetenz ist ein Schlüssel in der Präventionsarbeit. Die verbreitete alltägliche und selbstverständliche Nutzung von Angeboten im Internet durch Kinder und Jugendliche hat vieles verändert. Die Radikalisierung im Internet von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist ein ernstzunehmendes Phänomen. Extremistische Gruppen machen hier eine Vielzahl von Angeboten, die leicht zugänglich sind und sprechen Kinder und Jugendliche sogar in Chats von onlinebasierten Spielen an. In der Präventionsarbeit müssen Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, Informationen einordnen zu können, Fake-News zu erkennen und Kontaktversuche abzulehnen. Wir arbeiten dabei in unseren Maßnahmen auch mit Journalistinnen und Journalisten zusammen.
News4teachers: Sind Sie besorgt um die Demokratie in Deutschland?
Michael Hammerbacher: Die größeren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen in den letzten Jahren zum Zustand der Demokratie, wie die sogenannten „Mitte-“ und „Autoritarismusstudien“, geben hier einen guten Überblick. Es gibt eine große Differenz zwischen der Zustimmung zur Demokratie als Staatsform, die erfreulich stabil um 80 bis 90 Prozent liegt, zur Zufriedenheit mit der praktischen Umsetzung, die wesentlich darunter nur bei etwa 50 bis 60 Prozent liegt. Das ist auch in den Schulen wahrzunehmen. Diese Differenz nutzen Demokratiefeinde und rechtsextremistische Gruppen. Hier gibt es für die politisch Handelnden einiges zu tun und aufzuholen. Grundsätzlich macht mir die Demokratiedistanz in wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsgruppen sorgen, die sich auch in niedrigen Wahlbeteiligungen ausdrückt. Auch gibt es regional zwischen den Bundesländern große Unterschiede.
News4teachers: Gibt es etwas, das sich an deutschen Schulen Ihrer Meinung nach in der Demokratiebildung verändern oder verbessern muss?
Michael Hammerbacher: Das Ziel sollte sein, dass Demokratiebildung ein fester Bestandteil in jeder Schule ist. Diese sollte geplant und evaluiert sein. Sie sollte auf der Höhe der Zeit sein, also neuere gesellschaftliche Entwicklungen wie die Mediennutzung und die Veränderungen durch die Zuwanderung berücksichtigen. Die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler und der Eltern ist insbesondere in den Städten vielfältiger geworden und damit auch die Aufgaben für die Demokratiebildung. Einflüsse auf Schülerinnen und Schüler und Eltern des türkisch geprägten Rechtsextremismus durch Organisationen wie die „Grauen Wölfe“ und ihnen nahestehenden Organisationen, durch einen durch die russische Politik geprägten Autoritarismus und durch den Nah-Ost-Konflikt, rücken mit Blick auf antisemitische Haltungen mehr in den Vordergrund. Hier stehen wir mit der Präventionsarbeit in den Schulen noch in den Anfängen.
Zur Orientierung empfehle ich den Begriff der Grundrechtsklarheit für die Schulen und Lehrkräfte. Die Grundrechte werden für alle Menschen konsequent verteidigt und durchgesetzt. Staatliche Gesetze und Verordnungen gelten ebenfalls für alle gleich. Grundrechtsklarheit bedeutet aber mehr als nur Grundrechtskenntnis oder Grundrechtstreue. Klarheit ist eine Sache des Auftretens und der Verständlichkeit. Grundrechtsklar bedeutet also, die Werte und Normen unserer Verfassung überzeugend darlegen und gegen alle Varianten von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit verteidigen zu können. Daran sollten alle in der Schule arbeiten. Nina Odenius, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.