BERLIN. Zum Holocaust-Gedenktag hat der Zentralrat der Juden seine Forderung bekräftigt, einen Besuch in KZ-Gedenkstätten verpflichtend zu machen – zunächst für alle angehenden Geschichtslehrer, später auch für Schülerinnen und Schüler, erklärte Zentralrats-Präsident Josef Schuster, in Berlin. Doch erfüllen Gedenkstättenbesuche von Jugendlichen auch die Erwartungen, die sich daran knüpfen? Eine Übersicht über die Forschung zu dem Thema zeigt: Das kommt drauf an.
Eine deutliche Mehrheit der Deutschen ist dafür, alle Schülerinnen und Schüler zum Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers zu verpflichten – zumindest war dies das Ergebnis einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur 2020 unternahm. Danach sprachen sich 56 Prozent für solche Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten mindestens einmal während der Schulzeit aus. Nur 34 Prozent waren dagegen. 10 Prozent machten keine Angabe.
Das Projekt “Demokratiekosmos Schule” (DEKOS) soll Lehrkräfte im wirksamen Umgang mit antidemokratischen Situationen unterstützen – es zeigt dabei auch auf, wie dem Phänomen Antisemitimus in der pädagogischen Praxis begegnet werden kann.
Mit unterschiedlichen Formaten erhalten Lehrkräfte anwendungsorientiertes Know-how. DEKOS zeigt Wege auf, wie sie sich diesen Herausforderungen stellen und angemessen handeln können.
DEKOS, ein gemeinsames Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Bertelsmann Stiftung, wendet sich an Schulleitungen, Lehrer/innen und Schulsozialarbeiter/innen. Adressiert werden die siebte bis zur 13. Jahrgangsstufe. Da Diskriminierungen in allen Schulsituationen auftreten, betrifft das Thema alle Unterrichtsfächer. DEKOS ist auch geeignet, in Aus- und Fortbildungsbereichen eingesetzt zu werden.
Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ist für eine Gedenkstätten-Pflicht – sofern die Voraussetzungen stimmen. „In Bayern zum Beispiel ist das bereits der Fall”, so erklärte er Anfang Dezember im Interview mit News4teachers. „Allerdings reicht es nicht, eine Gedenkstätte zu besuchen und das Thema dann abzuhaken, als wäre man nach einem Besuch immun gegen Antisemitismus.”
Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern müssten sorgfältig vor- und nachbereitet werden und vor Ort von geschulten Personen durchgeführt werden. Schuster: „Mir ist bewusst, dass die Gedenkstätten begrenzte Kapazitäten dahingehend haben. Daher wäre es wünschenswert, wenn bereits im Geschichtsstudium angehende Lehrkräfte geschult würden, solche Besuche später durchzuführen. Allerdings kann man zum jetzigen Zeitpunkt leider ein Geschichtsstudium auf Lehramt absolvieren, ohne eine einzige Vorlesung oder Seminar zum Nationalsozialismus oder der Schoah zu belegen, obwohl die Themen später in der Schule verpflichtend unterrichtet werden müssen. Hier wäre der Praxisbezug im Studium wünschenswert.”
Das wirft die Frage auf: Was bringen Gedenkstättenbesuche von Schülerinnen und Schülern denn, gar verpflichtende? Dass Schülerinnen und Schüler durch die Vor-Ort-Termine tatsächlich etwas lernen, sei leicht zu behaupten, aber schwierig zu belegen, so schreibt der Dresdener Politikwissenschaftler Bert Pampel in einer Analyse wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema. Er zitiert aus Schülerinterviews, wonach die persönliche Bedeutung für die Kinder und Jugendlichen darin lag, „dass durch eigenes Sehen und Erleben weit zurückliegende historische Ereignisse nachvollziehbar werden. Das Ausmaß an Menschenverachtung und Brutalität wird durch den Besuch deutlicher, als es die ›trockene‹ Lektüre von Büchern oder das im Unterricht vermittelte Wissen vermag“.
„Die Wirksamkeitserwartungen an Schulklassenbesuche in Gedenkstätten sind im Allgemeinen überzogen”
Wichtiger als Kenntniszuwachs seien die emotionalen, visuellen und empathischen Eindrücke und das Gefühl, sich das frühere Geschehen besser vorstellen zu können. Die Kehrseite: Die Schülerinnen und Schüler interessierten sich kaum für den Kontext der Ereignisse, für die Nachgeschichte oder für die Frage, wie die Vergangenheit als Geschichte in der Gedenkstätte präsentiert wird. „Schüler sind weniger auf »Lernen« und mehr auf »Erleben« eingestellt“, so schreibt Pampel.
Er stellt fest: „Die Wirksamkeitserwartungen an Schulklassenbesuche in Gedenkstätten sind im Allgemeinen überzogen und stehen in krassem Gegensatz zu den für Vor- und Nachbereitung, aber auch zu den für die Durchführung aufgewendeten finanziellen und zeitlichen Ressourcen.“
Sogar nachteilige Effekte seien möglich: „Je stärker sich Lehrer oder Gedenkstättenpädagogen auf das Erreichen ihrer oft unrealistischen Lernziele fokussieren, desto mehr bewirken sie das Gegenteil: Wer möglichst viele Informationen vermitteln will, neigt zum Monologisieren und empfindet Fragen als störend – Schüler »schalten ab«. Wer unbedingt Empathie oder gar Trauer bewirken will, neigt zur Emotionalisierung und erzeugt Abwehr. Wer aus der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart vermitteln will, wirkt schnell moralisierend.“
Sinnlos seien die Besuche aber deshalb nicht. „Um den individuellen Sinnerwerb von Schülern überhaupt beeinflussen zu können, müssten Vermittler ihre eigenen Wirkungsansprüche mäßigen und zurückhalten und mehr Augenmerk auf das den Gedenkstättenbesuch entscheidend prägende Vorverständnis der Schüler legen. Es wäre notwendig, dass sie die pädagogische Veranstaltung weniger als Instrument zur Vermittlung von Wissen oder gar Haltungen verstehen und dass sie diese nicht als Angebot, bei dem aus der Geschichte Lehren für Gegenwart und Zukunft gezogen werden müssen, konzipieren. Vielmehr sollten Gedenkstätten vorrangig als Orte angesehen und fortentwickelt werden, die Gespräche, Fragen, Assoziationen, Interesse und Auseinandersetzung bewirken. Dies beinhaltet zum Beispiel eine Reduzierung der Vermittlung von Sachinformationen zugunsten kommunikativer und reflexiver Zeitanteile.“
Also: Auf das Wie kommt es an. Pampel: „Wenn Vermittler sich in diesem Sinne zurücknehmen, können sie das notwendige Gespür für Einstellungen, Reaktionen, Erwartungen, Bedürfnisse und Interessen der Schüler entwickeln. Wenn diese selbst zum Gegenstand der Interaktion werden, wenn aus Ver-Mittlern von Wissen und Haltungen Mittler zwischen Gedenkstätten und Schülern, wenn aus »Besucherreferenten« »Besucherbegleiter« werden, erfüllen Gedenkstätten ihren Zweck als Orte historisch-politischer Bildung.“ News4teachers / mit Material der dpa
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