ERFURT. Die auf Thüringen bezogene Analyse eines Erziehungswissenschaftlers zur Lehrerarbeitszeit schlägt bundesweit Wellen. Unterrichten Lehrkräfte zu wenig? Schlimmer noch: Drücken sich manche gar vor dem Unterricht? Dies legt Prof. Roland Merten in einer aktuellen Analyse nahe – und begründet das damit, dass für immer mehr Aufgaben in der Schule Anrechnungsstunden (sogenannte Abminderungen) in Anspruch genommen würden. Das Papier kommt für Lehrkräfte zur Unzeit, weil Landesregierungen in ganz Deutschland angesichts des Lehrermangels derzeit über Mehrarbeit im Schuldienst nachdenken. Dazu hatte sie ein Gutachten im Auftrag der KMK aufgefordert.
Roland Merten bezieht Position. „Obwohl sich im Verhältnis zur politischen Wende von 1989/1990 und dem Referenzschuljahr 1992/1993 in den meisten Schularten das Verhältnis von Schülern und Lehrkräften sogar verbessert hat, insbesondere in den Gymnasien, hat sich die Unterrichtsversorgung kontinuierlich verschlechtert“, so schreibt der Professor, Direktor des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Jena – und ehemaliger Staatssekretär im Thüringer Bildungsministerium –, laut „Thüringer Allgemeine“ in einer aktuellen Analyse. Die nimmt die Schulen im Freistaat in den Fokus, hat aber möglicherweise bundesweite Implikationen.
Das System habe sich mit immer mehr Stunden vollgesogen, die jedoch nicht in Form von Unterricht bei den Kindern und Jugendlichen angekommen seien. „Vielmehr haben sich die Lehrkräfte mit teils windigen Begründungen durch sogenannte Abminderung ihrer dienstlichen Aufgaben, nämlich der Erteilung von Unterricht, in einem nicht mehr zu begründenden Umfang entledigt. Diese Lehrkräfte werden ihrer pädagogischen Verantwortung nicht gerecht“, befindet Merten.
„Inzwischen gehen mehr als 20 Prozent des gesamten Unterrichtsvolumens in Abminderungen, das heißt, jede fünfte Stelle wird für irgendwelche anderen Aktivitäten zweckwidrig vernutzt“
Zwar müssten Schulleitungen „zweifelsohne stundenmäßig entlastet werden“. Aber dass ein Lehrer Abminderungen erfahre, weil er Referendare anleite, sei „schlicht unverständlich“. Das gelte ebenso für Klassenleitertätigkeiten. Sie gehören seiner Meinung nach „zu den vornehmsten Aufgaben einer jeden Lehrperson“.
Merten rechnet vor: „Inzwischen gehen mehr als 20 Prozent des gesamten Unterrichtsvolumens in Abminderungen, das heißt, jede fünfte Stelle wird für irgendwelche anderen Aktivitäten zweckwidrig vernutzt.“ Man könne an den Universitäten noch so viel ausbilden, das sei nicht zu kompensieren. Das seien – auf Thüringen umgerechnet – knapp 3.000 Stellen (oder, in Geld ausgedrückt, 176 Millionen Euro pro Jahr). „Dieser Zustand muss durch mutiges politisches Handeln beseitigt werden.“
Für das Thüringer Bildungsministerium stellt die Analyse, so erklärt ein Sprecher gegenüber dem MDR, keine solide Grundlage für politische Maßnahmen dar. Sie enthalte rechnerische Unschärfen und gehe in zentralen Schlussfolgerungen sachlich grob fehl. So sei der Lehrermangel in Thüringen Realität. Außerdem gebe es Abminderungsstunden nicht ohne Grund – etwa für die Aufgaben von Schulleitungen, als Klassenleiter, für Nachwuchsausbildung oder Fortbildungen. Zudem würden in der Studie auch Unterrichtsstunden eingerechnet, die etwa durch langzeiterkrankte Lehrer oder Lehrer in Elternzeit gar nicht gegeben werden könnten. Und auch, dass es ein „Altersproblem“ bei Lehrern gibt, wird laut Bildungsministerium durch Merten außer Acht gelassen.
Widerspruch kommt auch vom Thüringer Lehrerverband (tlv). „Die Aussagen des ehemaligen Staatssekretärs für Bildung weisen wir als Interessenvertretung der Lehrerinnen und Lehrer in Thüringen entschieden zurück. Sie sind nicht nur gnadenlos populistisch, sondern auch inhaltlich kompletter Unsinn“, erklärt tlv-Sprecher Tim Reukauf.
„Wir können nur darüber spekulieren, was Herrn Merten dazu veranlasst hat, in derartiger Weise bewusst Hass auf die Lehrer zu schüren“
„Dass sich beispielweise Lehrkräfte – wie von Herrn Merten behauptet – mit windigen Begründungen ihrer dienstlichen Aufgaben entledigen, ist gleich doppelt falsch. Zum einen entscheiden nicht die Lehrer selbst darüber, ob und in welchem Umfang sie Abminderungsstunden erhalten. Und zum anderen erledigen sie in der Zeit, die sie dann nicht vor einer Klasse stehen, andere – aber natürlich ebenfalls dienstliche – Aufgaben. Zudem zeugt Herrn Mertens Einschätzung, dass man die zusätzliche Arbeit für die Betreuung von Lehramtsanwärtern und die Klassenleiterfunktion locker-flockig nebenbei ableisten könnte, von hochgradiger Unkenntnis der Realität in den Schulen. Und sie zeugt von einer Auffassung des Lehrerberufs, der auch eines bereits ausgeschiedenen Staatsekretärs für Bildung unwürdig ist.“
Weiter erklärt Reukauf: „Wir können nur darüber spekulieren, was Herrn Merten dazu veranlasst hat, in derartiger Weise bewusst Hass auf die Lehrer zu schüren. Mag sein, dass damit von dem abgelenkt werden soll, was immer deutlicher zutage tritt: dass nämlich während seiner Amtszeit gravierende bildungspolitische Fehler begangen worden sind, die die Grundlagen für die jetzige Misere gelegt haben.“
Wirkung zeigt das Statement möglicherweise schon. Seit die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz in einem jüngst erschienenen Gutachten eine Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung für Lehrkräfte zumindest befristet empfiehlt, hat ein erstes Bundesland (Sachsen-Anhalt) genau dies angekündigt, News4teachers berichtete. Der erste Dominostein? Eine zweite Landesregierung (die von Sachsen) denkt darüber nun nach eigenem Bekunden nach – und hat dies bereits öffentlich gemacht. News4teachers
Hier geht es zu dem vollständigen Papier von Prof. Roland Merten.