BERLN. Das in Deutschland vorherrschende Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte ist ungerecht, unflexibel, ineffizient und tendenziell überlastend. Zu diesem Schluss kommt der Strategieberater und frühere Berliner Staatssekretär für Bildung Mark Rackles in einer Expertise, die er im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung erarbeitet hat. Die GEW lobt die Analyse als „treffend“ – und nennt den darin enthaltenen Vorschlag eines neuen Modells „interessant“.
Der Studie zufolge arbeitet eine Lehrkraft derzeit durchschnittlich 50 Wochenstunden. Nur gut ein Drittel davon entfällt auf die Kernaufgabe, das Unterrichten. Neben zentralen Tätigkeiten wie Vor- und Nachbereitung, Fortbildung und Beratung, beansprucht eine Vielzahl nicht-pädagogischer Tätigkeiten wie Aufsichten und Verwaltungsaufgaben die restliche Zeit.
Im deutschen sogenannten Deputatsmodell werden allerdings nur die Unterrichtsstunden festgelegt. Alle übrigen kommen hinzu, werden aber nicht systematisch als Arbeitszeit erfasst. Zeitgemäßer wäre nach Auffassung von Rackles eine Jahresarbeitszeit, in der alle anfallenden Tätigkeiten mit Vorgaben für Zeitanteile versehen werden – auch die Aufgaben, die über den reinen Unterricht hinausgehen.
„Wir können uns nicht länger ein System leisten, das so ineffizient mit der wertvollen Arbeitszeit von Lehrkräften umgeht”
„Das deutsche Modell ist seit 150 Jahren gültig und schlicht aus der Zeit gefallen. Es wird den heutigen Anforderungen in keiner Weise mehr gerecht“, sagt Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Deutsche Telekom Stiftung. „Wir können uns nicht länger ein System leisten, das so ineffizient mit der wertvollen Arbeitszeit von Lehrkräften umgeht. Der besorgniserregende Abwärtstrend der Schülerleistungen, insbesondere bei den Grundkompetenzen, aber auch der Lehrkräftemangel fordern ein entschiedenes, aber durchdachtes Gegensteuern. Die Arbeitszeit ist dabei für uns eine zentrale Stellschraube für einen zeitgemäßen und attraktiven Arbeitsplatz Schule.“
In der Studie werden vier Kritikpunkte benannt: Das Deputatsmodell sei…
- „… tendenziell überlastend: Im unbestimmten Bereich der Arbeitszeit außer
halb des Unterrichtsdeputats fallen viele, teils dringliche Aufgaben an, die laut
aktueller Studienlage zu durchschnittlich gut drei unbezahlten Überstunden die
Woche pro Lehrkraft führen. Das entspricht umgerechnet circa 24.500 Vollzeitstellen im Jahr. Mehrarbeit wird aber nur bei den Unterrichtsstunden erfasst. - … ineffizient: Durch die fehlende Aufgabenabgrenzung übernehmen Lehrkräfte schulische Tätigkeiten, die auch andere Professionen erledigen könnten, anstatt sich stärker auf ihre eigentlichen Aufgaben, insbesondere das Unterrichten, zu fokussieren. Durch Ermäßigungsstunden unterrichteten vollzeitbeschäftigte Lehrkräfte im Jahr 2021/2022 im Schnitt tatsächlich 21 Wochenstunden.
- … ungerecht: Die einheitlichen Deputatsstunden tragen nicht der Tatsache Rechnung, dass der Arbeitsaufwand je Unterrichtsstunde eher vom Fach und von der Schulstufe abhängt. Vor und Nachbereitung sowie Korrekturarbeiten können sehr unterschiedlich aufwändig ausfallen. Studien belegen, dass die tatsächlichen Arbeitszeiten je nach Schulart, Stufe und Fächerkombination bis zu 25 Prozent untereinander variieren.
- … unflexibel: Das tradierte Modell ignoriert nicht nur die Unterschiedlichkeit der
Fächer und ihre jeweilige Arbeitslast. Die starre Zuweisung von Deputatsstunden
verhindert etwa auch eine Anpassung der Zeitbudgets an die Bedarfe der Einzel
schule. Zudem ist es unflexibel gegenüber neuen Aufgaben und Anforderungen, die
so, unabhängig von Pflichtstunden, nur immer noch in den unbestimmten Teil der
Arbeitszeit hineingepackt werden.“
In seiner Expertise betrachtet Rackles nicht nur die Zahl der Deputatsstunden in den einzelnen Bundesländern, sondern auch die jeweiligen Teilzeitquoten. Dabei fallen erhebliche Unterschiede innerhalb Deutschlands auf. Rackles geht auch auf Konzepte vergleichbarer Bildungssysteme ein, darunter Dänemark und Japan. Deutlich wird, dass die meisten anderen Länder neben der Unterrichts- auch die Gesamtarbeitszeit klar vorgeben. Im OECD-Vergleich ist die Arbeitszeit deutscher Lehrkräfte überdurchschnittlich hoch, der Unterrichtsanteil dagegen deutlich geringer als der internationale Durchschnitt.
„Die Lehrkräfte in Deutschland sind mit vielen nicht-pädagogischen Aufgaben betraut, die Arbeitszeit und -druck erhöhen“, erläutert Mark Rackles. „Wenn man das pädagogische Arbeitsvolumen erhöhen will, dann sollte man aber nicht an einer – kaum mehr vermittelbaren – Arbeitszeiterhöhung ansetzen, sondern an einer Entlastung etwa bei IT oder Verwaltung. Dadurch und durch mehr Transparenz in der Arbeit würde das Berufsfeld sehr viel attraktiver, was ja auch nötig ist, um zukünftig wieder genug Menschen dafür zu gewinnen.“
Die Eckpunkte einer Alternative, die er vorschlägt, sehen folgendermaßen aus:
- „Jahresarbeitszeit als Bemessungsgrundlage: Das Modell richtet sich an der Jahresarbeitszeit statt an Deputatsstunden aus. Das bedeutet eine vollständige
Erfassung aller Arbeitsstunden und nicht allein der auf den Unterricht bezogenen
Pflichtstunden. - Differenzierung nach Schulstufen und Fächern: Die Zuweisung von Arbeitszeit erfolgt angepasst an die Arbeitslast der jeweiligen Fächer und Schulstufen, nicht jedoch, wie bisher, nach Schularten. Die für die Faktorisierung erforderlichen Werte sollten einfacher als in anderen, ähnlich differenzierenden Modellen sein und sich mit den Schulstufen erhöhen. Innerhalb der Schulstufen sollte die Differenzierung schwächer ausfallen und nur wenige Korrekturfächer betreffen.
- Definition von Aufgaben und Zeiterfordernissen: Es sollen Tätigkeitscluster gebildet und diese mit zeitlichen Richtwerten beziffert werden. Diese könnten sein: Unterricht als Kerngröße mit einem Anteil an der Gesamtarbeitszeit von 40 Prozent, unterrichtsnahe Tätigkeiten (Anteil: 35 Prozent), professionelle Kompetenz (Anteil: acht Prozent) sowie allgemeine Aufgaben (Anteil: 17 Prozent). Sinnvoll sind zudem Ziel-, Höchst- und Richtwerte für einzelne Aufgaben, so etwa die Vorgabe von mindestens zwei Prozent Fort und Weiterbildung.
- Globale Zeitbudgets, konkrete Personalplanung vor Ort: Im neuen System ermittelt die Schulbehörde den Unterrichtsbedarf der Einzelschule und erhöht das jeweilige Zeitstundenvolumen um den weiteren Bedarf für die Schulorganisation. Die Faktorisierung der Stunden erfolgt bereits hier. Bei der Personalzuweisung werden nur persönlich bedingte Arbeitszeitminderungen und eventuelle Teilzeitquoten berücksichtigt. Aus diesem Globalbudget vereinbart die Schulleitung mit jeder ihrer Lehrkräfte im Detail Tätigkeiten und Zeitbudgets.
- Starke Schulleitungen: Damit diese Zuweisung globaler Budgets an ergebnisverantwortliche Schulen gelingen kann, müssen die Schulleitungen als zentraler Akteur in dem neuen Arbeitszeitmodell gestärkt werden. Zur allgemeinen Entlastung wie auch für ein professionelles Personal und Zeitmanagement sollte eine neue Funktionsstelle innerhalb der Schulleitung eingerichtet werden.“
Für eine Umstellung des Arbeitszeitmodells empfiehlt Mark Rackles Pilotversuche, die im bestehenden System relativ unkompliziert realisierbar seien. Wichtig sei dabei neben Transparenz die Partizipation von Schulleitungen, Lehrkräften und Personalräten, um Akzeptanz für das neue Modell zu erreichen.
„Die Rackles-Untersuchung legt den Finger in die Wunde, sie ist ein weiterer Weckruf für die Kultusministerkonferenz: Das derzeitige Pflichtstunden-Arbeitszeitmodell führt tendenziell zur Überlastung der Lehrkräfte, da diesen immer neue Aufgaben aufgebürdet werden, ohne dass sie an anderer Stelle entlastet werden“, sagt Daniel Merbitz, GEW-Vorstandsmitglied Tarif- und Beamtenpolitik, in einer ersten Reaktion auf die Studie.
„Die schlechten Arbeitsbedingungen schaden der Attraktivität des Berufes und verschärfen den Lehrkräftemangel. Wir brauchen neue Konzepte, damit sich wieder mehr junge Menschen für den Lehrkräfteberuf entscheiden. Hierfür gibt die Rackles-Studie wichtige Hinweise.“ Die wachsenden Anforderungen an Schule und die Lehrkräfte hätten in den vergangenen Jahren so gut wie keinen Niederschlag bei der Unterrichtsverpflichtung gefunden. Diese liege noch heute mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau wie im Deutschen Kaiserreich. Ausdrücklich begrüßte Merbitz, dass Rackles‘ die Landesregierungen auffordert, ein neues Arbeitszeitmodell und die Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte mit den Gewerkschaften auszuhandeln.
„Es reicht nicht, die Verantwortung für die Arbeitszeit der Lehrkräfte an die Einzelschule zu delegieren, ohne zusätzliche Ressourcen ins System Schule zu geben“
Allerdings vermisste er eine klare Ansage, dass sich auch ein verändertes Arbeitszeitmodell nur dann positiv auswirken könne, wenn der Arbeitgeber grundsätzlich bereit ist, mehr Geld in die Hand zu nehmen. „Es reicht nicht, die Verantwortung für die Arbeitszeit der Lehrkräfte an die Einzelschule zu delegieren, ohne zusätzliche Ressourcen ins System Schule zu geben. So wird der Schwarze Peter nur nach unten verschoben. Das führt zwangsläufig zu Mangelverwaltung und Unzufriedenheit der Lehrkräfte“, betone der GEW-Tarifexperte. Genau an dieser Frage seien in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren alle Modellversuche mit alternativen Arbeitszeitmodellen gescheitert.
Rackles analysiere richtig, dass das Deputatsmodell tendenziell dazu führt, Lehrkräften Aufgaben aufzuladen, die auch andere Berufsgruppen erledigen können. Dies werde möglich, weil der Arbeitgeber nicht gegenrechnen muss, wie viele Unterrichtsstunden ihn beispielwese Verwaltungstätigkeiten oder IT-Aufgaben kosten, da er den Lehrkräften diese „on top“ und kostenlos auftragen kann. „Auch wenn nicht-lehrendes Personal an Schulen eingestellt wird, kostet das Geld, das zusätzlich investiert werden muss“, unterstreicht Merbitz. News4teachers
Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen.
Arbeitszeitstudie: Lehrkräfte arbeiten im Jahresmittel über drei Stunden zu viel – pro Woche
