Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek
BERLIN. Schlimm, schlimm – die Reaktionen aus der Politik auf die Iglu-Studie fallen gebührend betroffen, aber routiniert aus. «Alarmierend» nennt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) den Befund, dass jeder vierte Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen kann. KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch redet von einem «ernüchternden» Resultat – so als hätte es nicht schon vor über 20 Jahren den Pisa-Schock nach einem ähnlich desaströsen Ergebnis gegeben. Von einer «Zeitenwende», die auch die Bildung in Deutschland dringend nötig hätte, spricht dagegen niemand.
«Gut lesen zu können, ist eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg», weiß Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Sie sagt mit Blick auf die Iglu-Studie: «Es ist daher alarmierend, wenn ein Viertel unserer Viertklässlerinnen und Viertklässler beim Lesen als leistungsschwach gilt» – und betont: «Wir müssen jetzt tun, was für die Kinder am besten ist.»
Und was ist für die Kinder am besten? Natürlich das, was Frau Stark-Watzinger ohnehin vorhatte (weil der Koalitionsvertrag der Bundesregierung eine entsprechendes Projekt vorsieht, das aber leider, leider noch immer auf sich warten lässt): «Der Bund unterstützt derzeit schon mit Initiativen wie Lesestart 1-2-3 und BiSS-Transfer», sagt sie (übersetzt: Pipifax-Programme, die der Dimension des Problems nicht im Geringsten gerecht werden.) «Mit dem Startchancen-Programm wollen wir das noch nachhaltiger tun. Etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler sollen Startchancen-Schulen werden. Dabei wollen wir einen Fokus auf Grundschulen und die Stärkung der Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen legen. Bund und Länder können so gemeinsam für mehr Chancengerechtigkeit sorgen und den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufbrechen.» Wann das Programm kommt und wie viel Geld dort hineinfließt? Steht in den Sternen.
«Die Iglu-Studie zeigt, dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen, damit es mit den Leistungen unserer Kinder und Jugendlichen wieder bergauf geht»
Eine Zeitenwende, wie sie der Bundeskanzler im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sieht, beschwört die Liberale in der Bildung dann auch gar nicht erst herauf, um ihren Parteivorsitzenden und Bundesfinanzminister nicht zu ärgern, der dann womöglich schon wieder ein Sondervermögen besorgen müsste. Sie beschreibt das Problem brav ein paar Nummern kleiner: «Die Iglu-Studie zeigt, dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen.» Ein bescheidener Wunsch, der ja schon dann erfüllt wäre, wenn der Absturz nicht noch tiefer ginge.
Ähnlich inhaltsarm äußert sich die neue Berliner Bildungssenatorin und frischgebackene KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU): «Die Leseförderung ist und bleibt eine der wichtigsten Maßnahmen, um Kindern und Jugendlichen einen erfolgreichen Bildungsabschluss und somit einen erfolgreichen Start in das berufliche Leben zu ermöglichen. Leider liegen zu viele Schülerinnen und Schüler unter dem Mindeststandard, so ist gesellschaftliche Teilhabe nur eingeschränkt möglich. Die Ergebnisse der Iglu-Studie sind ernüchternd.» Das wirft die Frage auf: Waren wir bislang alle berauscht? (Von der Bildungspolitik in Deutschland ganz sicher nicht. Man ahnte irgendwie, dass es nicht zum Besten steht.)
Auch Günther-Wünsch gehörte vor wenigen Wochen noch zu den Mahnern – von der Oppositionsbank aus. Als schulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus sparte sie nicht mit Kritik an der damaligen Bildungssenatorin und KMK-Präsidentin Astrid-Sabine Busse (SPD) und forderte sogar deren Rücktritt schon nach ein paar Monaten im Amt («Frau Senatorin Busse hat bei den Herausforderungen der Schulpolitik völlig versagt»). Kaum selbst ins Amt gekommen, hat Günther-Wünsch aber plötzlich Corona als Ursache für die Leistungsdefizite entdeckt. Und die Migration. «Die Pandemie und eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellen die Lehrkräfte vor immer größere Herausforderungen. Das ist uns bewusst, und wir werden uns diesen Herausforderungen stellen», erklärt sie jetzt (Subtext: Konnte ja keiner ahnen – keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll).
Und weiter: «Mit Bund-Länder-Initiativen wie zum Beispiel ‘Schule macht stark‘ und BiSS-Transfer wollen wir auch künftig die Förderung von Kindern mit Migrationsgeschichte und Kindern in sozialen Brennpunkten passgenau unterstützen. Die Ergebnisse der IGLU 2021-Studie zeigen einmal mehr, wie wichtig weitere intensive Maßnahmen sind. Wir Länder müssen gemeinsam nach schnellen, wirksamen und nachhaltigen Lösungen suchen. Die Unterstützung durch den Bund ist hierbei außerordentlich wichtig.» Aha. Dann fangt mal an zu suchen – über 20 Jahre nach der ersten Pisa-Studie.
Von dem, was die Christdemokratin ihrer sozialdemokratischen Amtsvorgängerin (übrigens einer Schulleiterin) vorgehalten hatte – Desinteresse, Ideenlosigkeit und fehlendes Engagement für Schulen, sie unternehme zu wenig gegen den Lehrkräftemangel und lasse überhaupt jegliche Vision für die Bildungslandschaft vermissen -, ist plötzlich keine Rede mehr. Wie sagte schon der alte Marx? Das Sein verändert das Bewusstsein. Und als Kultusministerin hat man dann offenbar eine mildere Sicht auf die Probleme…
«Die ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben kaum Wirkung im Hinblick darauf gezeigt, den Bildungserfolg sowie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern»
«Auch künftig passgenau»? «Noch nachhaltiger»? An dieser Stelle ist es geboten, die Statements der beiden obersten Repräsentantinnen der Bildung in Deutschland mal mit der Erklärung der Iglu-Studienleiterin Prof. Nele McElvany abzugleichen. Die sagt nämlich: «Die verschiedenen ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben kaum Wirkung im Hinblick darauf gezeigt, den Bildungserfolg sowie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern.»
Im Klartext: Die Iglu-Studie zeigt keinen kleinen Nachsteuerbedarf auf. Sie legt das Scheitern der Bildungspolitik in Deutschland offen – seit 20 Jahren! Zeit also, liebe Bildungspolitikerinnen, für eine Zeitenwende nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die Kitas und Schulen. Erster Schritt dahin: Kein Blabla und Schönsprech mehr, keine albernen parteipolitischen Spielchen mehr – stattdessen eine ehrliche Bestandsaufnahme dessen, was die Bildungspolitk in den vergangenen zwei Dekaden versäumt und verbockt hat. Ich fürchte allerdings, darauf können wir noch lange warten. Womöglich weitere 20 Jahre. News4teachers