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Diskriminierung: „Im Durchschnitt werden pro Klasse ein bis zwei Kinder ausgeschlossen“

KONSTANZ. Was, wenn der Schulbesuch zum Spießrutenlauf wird? Wenn niemand mit einem zusammenarbeiten will? Wenn man in den Pausen alleine bleibt? Prof. Jeanine Grütter, Bildungsforscherin für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Inklusion an der Universität Konstanz, schildert im Interview, welche sozialen Dynamiken sich in den Klassenzimmern heute abspielen.

Dass es an jeder Schule Probleme mit Mobbing gibt, gilt unter Experten als unstrittig. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Wie äußert sich die Diskriminierung an Schulen?

Jeanine Grütter: Wenn ein Kind aufgrund von seiner Zugehörigkeit benachteiligt wird oder negative Erfahrungen macht. Dies kann auf sprachlicher Ebene geschehen, dass ein Kind beschimpft wird oder Gerüchte verbreitet werden. Diskriminierung kann aber auch aggressives, gewaltsames Verhalten beinhalten. Hintergrund ist ähnlich wie bei Mobbing oft ein Machtungleichgewicht im Klassengefüge. Im Durchschnitt werden pro Klasse etwa ein bis zwei Kinder ausgeschlossen oder leiden unter Mobbing.

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Aufgrund von welchen Merkmalen werden Klassenkameradinnen oder -kameraden diskriminiert?

Grütter: Solche sozialen Merkmale können die Herkunft sein, eine Behinderung oder auch die sexuelle Identität. Alle möglichen sozialen Merkmale, aufgrund deren jemand als unterschiedlich wahrgenommen wird. Wenn ein Kind aufgrund eines solchen Merkmals negative Erfahrungen macht oder benachteiligt wird, erlebt es dies häufig als unkontrollierbar, weil es seine soziale Zugehörigkeit beispielsweise nicht ändern kann. Daher fühlt es sich dem häufig ausgeliefert.

Was bedeutet das für die betroffenen Kinder?

Grütter: Die Kinder sind meistens eingeschränkt in ihren schulischen Leistungen, weil sie vor allem ihre Aufmerksamkeit darauf lenken: „Was machen jetzt gerade die anderen? Werde ich gleich wieder Zielscheibe?“ Sprich, sie konzentrieren sich weniger auf den Stoff und sind auch weniger bereit, sich am Unterricht zu beteiligen.

Kinder und Jugendliche, die Diskriminierung erleben, nehmen die Schule nicht mehr als sicheres Umfeld wahr und fühlen sich häufig auch nicht mehr zu der Schule zugehörig. Mitunter suchen sie sich andere Quellen, wo sie sich als eine positive Person wahrnehmen können. Und durch die negativen Erfahrungen mit Gleichaltrigen kann der Selbstwert sehr stark beeinträchtigt werden, sodass sie später ein höheres Risiko für psychische Störungen haben.

Welche Rolle spielt die Lehrkraft, wenn es zu Diskriminierung in einer Klasse kommt?

Grütter: Wie die Lehrerinnen und Lehrer im Falle von Diskriminierung reagieren, spielt eine besonders wichtige Rolle. Wenn die Lehrkraft eingreift, signalisiert sie dem ausgeschlossenen Kind, dass es sich auf sie verlassen kann, und es erlebt die Schule als sicheres Umfeld. Die negativ agierenden Kinder merken, dass sie mit ihrem Verhalten nicht durchkommen. Am wichtigsten aber sind die Kinder, die nicht direkt Teil der Handlungen sind, sondern nur beobachten, die sogenannten Bystander. Diese sehen: „An dieser Schule werden Kinder nicht ausgeschlossen und wenn es passiert, dann tritt jemand für sie ein. Also mache ich das auch.“ Eine solche Motivierung der Bystander ist eigentlich das effektivste Mittel, damit Mobbing, Ausschluss oder Diskriminierung gar nicht erst stattfinden. Die Lehrkraft kann insofern ein Rollenmodell für die Kinder sein.

Immer noch begegne ich jedoch leider manchmal der Haltung: „Das geht mich als Lehrperson wenig an, das ist nicht meine Verantwortung.“ Aber es liegt sehr wohl in deren Verantwortung, ob sich die Kinder in der Schule wohlfühlen, sich zugehörig fühlen.

Was können Lehrkräfte konkret tun, um soziale Dynamiken positiv zu beeinflussen?

Grütter: Da gibt es viele Möglichkeiten. Der erste Schritt ist zu erkennen, was in der Klasse abläuft. Um dies zu verstehen, zeichnen wir jeweils soziale Netzwerke von einer Klasse und schauen dann, welche soziale Stellung die Kinder haben und wie man diese verändern könnte: zum Beispiel über strategisch geplante Gruppenspiele, Gruppendiskussionen, aber auch Sitzplatzanordnungen oder sonstige Lerngruppeneinteilungen. So kann man bewusst viele Begegnungsräume für die Kinder schaffen und sie zu Offenheit bei Gruppenbildung ermuntern.

Für die Gruppendiskussionen eigenen sich Geschichten von Kindern, die divers sind, sehr gut. Anhand solcher Geschichten kann die Gruppe diskutieren: War es fair oder unfair, wie sich die Charaktere verhalten haben, wenn zum Beispiel ein Kind ausgeschlossen wurde, weil es langsam lernt? Was könnten sie sich dabei gedacht haben? Wie fühlen sich die Beteiligten? Die Idee ist, dass die Kinder all diese Gedankengänge nachvollziehen und so ihr Bewusstsein für ihre eigenen Haltungen und Verhaltensweisen schärfen und eigene Strategien überlegen. Wichtig ist dabei, dass die Lehrperson sich in der Diskussion zurücknimmt und nur nachfragt, um der Diskussion mehr Tiefe zu geben.

Was kann die Schule, tun, um ein tolerantes Umfeld zu schaffen?

Grütter: Es braucht eine Willkommenskultur an der Schule, Anlaufstellen für die Kinder und Jugendlichen bei persönlichen Fragen oder Schwierigkeiten, ein Lehrerteam, das wirklich zusammen einsteht für eine gute Schulkultur. Dies alles ist absolut wichtig, um ein tolerantes Umfeld zu bereiten. Interview: Marion Voigtmann (PM)

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers heiß diskutiert.

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