ERFURT. Der Vorsitzende der – vom Verfassungsschutz als „erwiesen extremistisches Beobachtungsobjekt“ eingestuften – AfD in Thüringen, Björn Höcke, will behinderte Kinder aus Regelschulen hinausdrängen. Er hat angekündigt, das „Ideologieprojekt Inklusion“ abschaffen zu wollen. Abwegig ist das zumindest im Freistaat nicht: Die AfD liegt in Meinungsumfragen zur Landtagswahl 2024 vorn. Dass er damit geltendes Bundesrecht und internationales Recht brechen würde, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Erst vor gut drei Wochen hatte die AfD für Schlagzeilen gesorgt, weil sie Kinder vom Regelunterricht ausschließen will. Es ging dabei um Migrantenkinder. Der bayerische Spitzenkandidat Martin Böhm verlangte bei der Vorstellung des Parteiprogramms zur anstehenden Landtagswahl im Freistaat einen gesonderten Unterricht für alle Grund- und Mittelschüler, bei denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird. Diese Kinder sollten „in ganz besonderen Klassen weitergebildet» werden – „keinesfalls mit Kindern, die die Sprache perfekt beherrschen. Weil immer wenn Sie zwei Flüssigkeiten zusammenschütten, dann erhalten Sie irgendwo eine Mischung“, erklärte der ehemalige Versicherungsvertreter.
Böhm gilt als Vertreter des „Flügels“ der AfD – jener angeblich mittlerweile aufgelösten völkischen Gruppierung, die der Bundesverfassungsschutz 2020 als „erwiesen extremistische Bestrebung“ einstufte. Seine Gründer seien Rechtsextremisten, sagte Behördenchef Thomas Haldenwang seinerzeit. Der wichtigste Vertreter: der Thüringer Partei- und Fraktionsvorsitzende Björn Höcke, vom hessischen Staatsdienst beurlaubter Geschichtslehrer, der nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Meiningen „aufgrund überprüfbarer Tatsachen“ öffentlich als Faschist bezeichnet werden darf.
Höcke provoziert immer wieder mit seiner rechtsradikalen Sicht auf Schulen. „Anstatt die nachwachsende Generation mit den großen Wohltätern, den bekannten, weltbewegenden Philosophen, den Musikern, den genialen Entdeckern und Erfindern in Berührung zu bringen, von denen wir ja so viele haben, …vielleicht mehr als jedes andere Volk auf dieser Welt…, und anstatt unsere Schüler in den Schulen mit dieser Geschichte in Berührung zu bringen, wird die Geschichte, die deutsche Geschichte, mies und lächerlich gemacht“, behauptete er 2017 – und erntete dafür entschiedenen Widerspruch vom Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD). „Das sind absurde Unterstellungen eines Außenseiters, der damit seinen politischen Extremismus begründen möchte“, befand der damalige VGD-Vorsitzende Ulrich Bongertmann.
Jetzt legt ein mittlerweile in der AfD erstarkte Höcke (er gilt in der Partei als mächtigster Strippenzieher) nach – und geht dabei noch über seinen bayerischen Gefolgsmann Böhm hinaus. Der Thüringer AfD-Chef will, wenn er an die Regierung kommt, auch Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen vom Regelunterricht ausschließen.
In einem „Sommerinterview“ mit dem MDR zählte Höcke in dieser Woche auf, was seiner Meinung nach die „Belastungsfaktoren“ seien, die man „vom Bildungssystem wegnehmen müsse“. Er sprach von einer „Wende“ in der Einwanderungspolitik, die „ganz ganz zentral“ sei, also von weniger Kindern mit Migrationshintergrund. Und er sagte wörtlich: „Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion, beispielsweise auch dem Gender-Mainstream-Ansatz. Alles das sind Projekte, die unsere Schüler nicht weiterbringen, die unsere Kinder nicht leistungsfähiger machen und die nicht dazu führen, dass wir aus unseren Kindern und Jugendlichen die Fachkräfte der Zukunft machen.“
Hintergrund: Die Inklusion ist in Deutschland im 2008 vom Bundestag verabschiedeten „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ festgelegt, mit dem die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert wurde.
„Um dieses Recht (…) zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“
Diese sieht in Artikel 24, Absatz eins vor: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen (…).“ Weiter heißt es in Absatz zwei: „Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass (..) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden (…).“
Eine Kündigung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Deutschland wäre zwar theoretisch möglich. In Artikel 48 heißt es: „Ein Vertragsstaat kann dieses Übereinkommen durch eine an den Generalsekretär der Vereinten Nationen gerichtete schriftliche Notifikation kündigen.“ Der Schritt wäre allerdings beispiellos – und würde Deutschland aus der westlichen Wertegemeinschaft hinauskatapultieren.
„Inklusion ist ein Menschenrecht und kein ‚Ideologieprojekt‘. Damit zeigt die AfD einmal mehr, welchen Stellenwert sie Menschen mit Behinderungen einräumt”
Entsprechend scharf fallen die Reaktionen auf den Höcke-Vorstoß aus. Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Simone Oldenburg erklärt: „Inklusion ist keine Ideologie, sondern ein Gebot der Menschlichkeit. Die AfD will separieren und stigmatisieren. Die Forderung einer Ausgrenzung erinnert an das dunkelste Verbrechen der deutschen Geschichte.“ Inklusion stehe für gesellschaftliches Miteinander, ermögliche Teilhabe und individuelle Förderung. Dies gelte auch für Kita und Schule. „Für die AfD ist all das Gift. Die Wortwahl lässt erahnen, welcher Weg hier eingeschlagen werden soll. Das muss für uns alle ein Alarmzeichen sein“, sagt die Linke-Politikerin.
Die Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele betont: „Inklusion ist ein Menschenrecht und kein ‚Ideologieprojekt‘. Damit zeigt die AfD einmal mehr, welchen Stellenwert sie Menschen mit Behinderungen einräumt. Ziel der Partei ist offensichtlich nicht, dass alle Menschen im Land gleiche Chancen auf Teilhabe haben. Das sollte jedem klar sein, der diese Partei wählt. Heute sind es Migranten und geflüchtete Menschen, Menschen mit Behinderungen und Frauen, denen die AfD dreist und unverhohlen ihre Rechte abspricht, morgen sind es vielleicht schon Seniorinnen und Senioren, Pflegebedürftige und ärmere Menschen.“
GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze sagt gegenüber dem „Spiegel“: „Jedes Kind, jeder Jugendliche hat das Recht inklusiv – also an einer Regelschule – unterrichtet zu werden“. Diesen Anspruch bekräftige man als GEW und wende sich „gegen jegliche Ausgrenzung und Selektion“.
Die Sprecherin der Aktion Mensch, Christina Marx, erklärt gegenüber dem Magazin: „Inklusion ist kein Ideologieprojekt, Inklusion ist ein Menschenrecht. Sie abzuschaffen ist ein Angriff auf die Menschenwürde.“ Gemeinsames Aufwachsen und Lernen von Anfang an befähigten dazu, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen – genau das brauche eine zukunftsorientierte Gesellschaft aktuell mehr denn je.
Marx widerspricht Höcke in einem weiteren Punkt: „Wenn Höcke von den Leistungsträgern und Fachkräften von morgen spricht, muss man deutlich sagen: Menschen mit Behinderungen sind die Fachkräfte von heute.“ Damit das so bleibe, sei es wichtig, „dass sie Zugang zu allgemeinbildenden Schulen haben, um Abschlüsse zu bekommen und Ausbildung und Studium machen zu können“. Das Institut der Deutschen Wirtschaft bestätigt das. „Ein Blick in die Statistik entlarvt Höckes Aussagen schnell”, heißt es in einer Stellungnahme. „Schwerbehinderte Menschen sind gut qualifiziert und sie arbeiten in allen Branchen, besonders häufig im Verarbeitenden Gewerbe oder im Öffentlichen Dienst.“ Der Inklusion sei dank.
„Es fehlt an Personal für Fördermaßnahmen, an professionellen Unterstützungssystemen, an guten Fortbildungsangeboten und schlicht an Zeit für Bildung”
Allerdings wächst die Kritik an der praktischen Umsetzung der Inklusion an Schulen insbesondere in der Lehrerschaft. Laut einer Umfrage des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands BLLV unter Mitgliedern vom Mai 2022 halten 97 Prozent die Inklusion unter den derzeitigen Rahmenbedingungen für nicht realisierbar. Lediglich von Schulbegleitung, Kollegium und Schulberatung vor Ort fühlten sich die Lehrkräfte unterstützt – von der Politik nicht. Denn, so erklärte der Verband: „Es fehlt an Personal für Fördermaßnahmen, an professionellen Unterstützungssystemen, an guten Fortbildungsangeboten und schlicht an Zeit für Bildung. Nicht zuletzt fehlt es an Personal und Ressourcen für eine Differenzierung im Sinne eines individualisierten Unterrichts zur optimalen Förderung von Schülerinnen und Schülern.“
In diese Kerbe schlägt Höcke. Umfragen sahen die AfD in Thüringen zuletzt mit Werten zwischen 28 und 34 Prozent als stärkste Kraft. News4teachers / mit Material der dpa
Unter dem Titel „Im Gedenken der Kinder – Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“ hat die Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin eine Ausstellung ins Leben gerufen, die die Kinder-Euthanasie im Nationalsozialismus thematisiert. Die Wanderausstellung ist bis zum 9. November 2023 in den Räumen der Villa Merländer in Krefeld zu sehen.
„Mehr als achtzig Jahre nach dem Beginn systematischer Tötungen von Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung erinnert die Ausstellung an die nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde an Kindern und Jugendlichen. Auf Grundlage der nationalsozialistischen Rassenideologie wurden in Deutschland auch an jungen Menschen medizinische Verbrechen begangen. Mehr als 5.000 Kinder und Jugendliche wurden allein in ‚Kinderfachabteilungen‘ eigens für die Tötung geschaffene Einrichtungen – gequält und ermordet. Kinder und Jugendliche wurden aber auch Opfer der Gasmordaktion ‚T4‘ und der ‚Hungerkost in Anstalten und Heimen. Sie wurden für Experimente missbraucht und ihre Organe nach ihrem Tod für Forschungszwecke verwendet“, so heißt es in einem Erklärtext zur Ausstellung.
Und weiter: „Die Ausstellung zeigt, dass es diesen Ärztinnen und Ärzten bei der Tötung nicht um die schmerzlose Beendigung individuellen Leidens ging, sondern entsprechend der nationalsozialistischen Rassenideologie um die ‚Befreiung‘ der Gesellschaft von sogenannten ‚Ballastexistenzen‘, deren Leben nur dann verlängert wurde, wenn sie noch ‚der Wissenschaft dienen‘ könnten.“
Weitere Informationen zur Ausstellung: https://www.im-gedenken-der-kinder.de/assets/flyer_igdk_krefeld.pdf
