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Genderverbot in Schulen: Die Union betreibt den Kulturkampf der AfD – und wertet sie damit auf

WIESBADEN. Das Thema Gendern mit Sonderzeichen scheint über Wohl und Wehe dieser Republik zu entscheiden, so viel Aufgeregtheit liegt in der Debatte. Der bayerische Ministerpräsident hat ein «Genderverbot» nur wenige Stunden nach Veröffentlichung der Pisa-Studie angekündigt – als könnte ein Aus für Binnen-I und Sternchen irgendein Bildungsproblem lösen. Nun spielt das Thema auch bei den Koalitionsgesprächen in Hessen eine Rolle. Die Union macht diesbezüglich Druck – offensichtlich im Bemühen, der AfD das Wasser abzugraben. Womöglich erreicht sie damit allerdings das Gegenteil.

Um das Gendern in Schulen wird ein Kulturkampf geführt. Foto: Shutterstock

Der Streit um das Gendern mit Doppelpunkt, Binnen-I, Unterstrich oder Sternchen kocht hoch. Dabei spielen neben Begriffen wie Gleichberechtigung und Inklusion zunehmend auch Wörter wie Kulturkampf und Populismus eine Rolle. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will Gendern in Schulen und Behörden des Freistaats verbieten – die Ankündigung erfolgte unmittelbar nach Veröffentlichung der Pisa-Ergebnisse, die auch Söders Staatsregierung mitzuverantworten hat (News4teachers berichtete).

Nur ein Ablenkungsmanöver? Offenbar steckt mehr dahinter: Auch in Hessen zeichnet sich Ähnliches ab. Hier haben CDU und SPD, die über ein neues Regierungsbündnis verhandeln, bereits mit einem gemeinsamen Eckpunktepapier nach ihren ersten Sondierungen Aufsehen erregt.

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Auf Drängen der CDU, die augenscheinlich eine Bundesländer-übergreifende Kampagne dazu verabredet hat, will die designierte Koalition demnach in Hessen «festschreiben, dass in staatlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen (wie Schulen, Universitäten, Rundfunk) auf das Gendern mit Sonderzeichen verzichtet wird» – bei einer Orientierung am Rat der deutschen Rechtschreibung.

In einigen CDU-regierten Bundesländern gibt es bereits seit dem Sommer ähnliche Verbote oder Bestrebungen. So werden etwa an Schulen in Sachsen und Sachsen-Anhalt Sonderzeichen für eine geschlechtsneutrale Sprache abgelehnt. In Sachsen werden Paarformen wie Schülerinnen und Schüler und geschlechtsneutrale Formen wie Lehrkräfte empfohlen. In Aufsätzen werden Genderformen als Fehler markiert. Sachsen-Anhalts Bildungsministerium untersagt Schülern zwar Gender-Sternchen und das Binnen-I, lässt bei der Bewertung ihrer Texte aber Spielraum.

«Ich finde es wichtig, dass niemand an einer Hochschule oder in einer Schule in einer Hausarbeit oder in einer Klausur schlechtere Noten erhält, weil er beispielsweise auf das Gendersternchen verzichtet»

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) hat wie Söder gerade eine Landtagswahl gewonnen. Er sagt auf Anfrage: «Ich will niemandem vorschreiben, wie er spricht. Aber ich finde es wichtig, dass niemand an einer Hochschule oder in einer Schule in einer Hausarbeit oder in einer Klausur schlechtere Noten erhält, weil er beispielsweise auf das Gendersternchen verzichtet.» Welche konkreten Fälle in Hessen er damit meint? Dazu trifft er keine Aussage.

Rhein erlebt nach eigenen Worten neben «dem einen oder anderen “Berufsgenderer”» eine «enorme Zustimmung bei diesem Thema». Er finde es schwierig, Genderformen zuzuhören oder sie zu lesen. Er selbst verwende auch öfter Paarformen wie «Bürgerinnen und Bürger». Mit «sperrigen» Gender-Sonderformen würden viele ausgegrenzt. «Das ist das exakte Gegenteil von Inklusion», sagt der hessische CDU-Chef.

Die SPD ist bisher nicht für Gender-Verbote bekannt. Sie musste diese Kröte als Juniorpartnerin in Hessen aber offenbar schlucken. Sie will sie sich nach eigenen Worten an Debatten darüber «vor dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen nicht beteiligen». Vom Parteinachwuchs kommt derweil Gegenwind. Juso-Landeschef Lukas Schneider moniert: «Derartige Beschränkungen der geschlechtergerechten Sprache dienen lediglich dazu, Spaltung zu fördern und Menschen auszuschließen.» Die Jusos drohen damit, einem Koalitionsvertrag nicht zuzustimmen, «wenn diese rückwärtsgewandte Forderung weiterhin darin enthalten ist».

Auch Lehrerverbände üben Kritik – in Hessen wie in Bayern. Dort hat Söder das angekündigte Gender-Verbot jüngst verteidigt: «Ich glaube, dass das Gendern unsere Gesellschaft eher spaltet als alles andere.» Fragen zu Umsetzung und möglichen Sanktionierungen in Schule und Verwaltung hat der CSU-Chef vorerst unbeantwortet gelassen. Auch in Hessen erscheint dies zunächst noch nebulös.

Stecken auch Ideologie oder Populismus hinter Gender-Verboten? Die hessische AfD-Fraktion hält Gender-Sonderzeichen für ein «hochideologisches Projekt einer Minderheit» und «falsch geschriebenes Deutsch». Heuchlerisch schiebt die migrantenfeindliche Partei hinterher: Damit täten sich auch «Nichtmuttersprachler» schwerer.

Die Gießener Politologin Prof. Dorothée de Nève spricht von erfolgreichem «Agendasetting» der AfD. So finde sich deren Forderung im hessischen Wahlkampf, Gender-Sonderzeichen abzuschaffen, «fast wortgleich» im Eckpunktepapier von CDU und SPD wieder. Dies zeige, «wie weit sich die Christdemokraten und Sozialdemokraten bereits auf den Kulturkampf der AfD eingelassen haben». Auch die Bildungsgewerkschaft GEW in Hessen urteilt: «Ohne Not scheinen die Koalitionsparteien einer populistischen Forderung nachgeben zu wollen. Damit stärken sie den Rechtspopulismus, anstatt ihn zu bekämpfen.»

Das sieht auch der nach eigenem Bekunden konservative «Spiegel»-Kolumnist Nikolaus Blome so: «Bürgerliche, die es mit Kulturkampf von rechts versuchen wollen, bleiben entweder keine oder kommen darin um», so schreibt er in einem Kommentar. «Oder glaubt irgendjemand, die AfD würde in den Umfragen sacken, wenn Pipi Langstrumpfs Vater nicht mehr ‘Südseekönig’ hieße, sondern so wie früher?» Aber immer wieder anekdotisch darauf zu pochen, sollte aufgeklärten Konservativen die Mühe nicht wert sein. Denn es gehe am Eigentlichen weit vorbei («und in Deutschland ist es ziemlich höchste Zeit fürs Eigentliche») – nämlich am Ringen um Lösungen in relevanten Sachfragen wie Klimaschutz, Wirtschaft oder Bildungspolitik.

Blome: «Welches wichtige Ding wurde in jüngster Zeit bei kulturkämpferischen Feindseligkeiten erfunden? Welche Krankheit ausgemerzt oder welches Problem auch nur ansatzweise angegangen – außer jenem Problem natürlich, zu dem man das Verhalten der anderen Seite zuvor stilisiert hat? Und vor allem: Wo soll das Ganze enden?» Und weiter: «Harter Kulturkampf ist wie Rattenrennen. Und in einem Rattenrennen ist auch der Sieger immer eine Ratte.»

«Verwaltungssprache muss alle Menschen ansprechen und repräsentieren, unabhängig welches Geschlecht sie haben. Sprache formt unbewusst unsere Wahrnehmung der Welt»

Hessens Ministerpräsident Rhein geht es nach eigener Aussage «nicht um Kulturkampf und Identitätspolitik, sondern darum, dass der Rat für deutsche Rechtschreibung Regeln vorgegeben hat, die es leichter und einfacher machen, Texte zu lesen». Dieses Gremium hat im Juli vorerst entschieden, Genderzeichen nicht als Kernbestand der deutschen Orthografie einzustufen. In einer neuen Ergänzung führt der Rat zugleich das Gendern im Wortinnern – Doppelpunkt, Unterstrich und Sternchen – auf. Reguläre Zeichen seien diese aber weiterhin nicht.

Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Hessischer Frauenbüros ist gegen ein Gender-Verbot. «Verwaltungssprache muss alle Menschen ansprechen und repräsentieren, unabhängig welches Geschlecht sie haben. Sprache formt unbewusst unsere Wahrnehmung der Welt», teilt die LAG mit. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) kennt nach eigener Aussage keine Grundschulen in Hessen, die Gender-Sonderzeichen lehren. An den weiterführenden Schulen sei dieser «Umgang mit Vielfalt» aber ein Thema. Für die Noten sollten Gendersternchen keine Rolle spielen.

Die Goethe-Universität Frankfurt unterstützt das Bemühen «um eine geschlechter- und diskriminierungssensible Sprache». 2021 habe sie dafür Empfehlungen vorgelegt. Generell könnten Hochschulangehörige ihre Sprache jedoch auch öffentlich und dienstlich frei wählen.

Der Hessische Rundfunk wartet «interessiert die Verhandlungen der designierten Landesregierung und das Ergebnis zum Thema Gendern im Koalitionsvertrag» ab. Im hr werde gendersensible Sprache verwendet, «weil sie alle meint, alle zeigt und alle anspricht». Die Art des Genderns sei den Redaktionen des Senders jedoch nicht vorgegeben. Der Deutsche Journalisten-Verband befürchtet mit Blick auf die Rundfunk- und Pressefreiheit eine politische und rechtswidrige Einflussnahme. Verbote gegen eine gendergerechte Sprachveränderung seien eine «rückwärtsgewandte Angstreaktion».

Die Redaktion von News4teachers wird sich nicht vorschreiben lassen, ob sie gendert oder nicht. Wir tun’s – immer wieder (zuletzt öfter!), und zwar dann, wenn die zu vermittelte Botschaft nicht verwässert und der Lesefluss nicht gestört werden. Übrigens bedeutet gendern keineswegs nur, Sonderzeichen zu verwenden. Auch die Formeln «Schülerinnen und Schüler» oder «Lehrerinnen und Lehrer» – die von allen Kultusministerien in Deutschland seit Jahren genutzt werden – sind Formen des Genderns. News4teachers / mit Material der dpa

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