MÜNCHEN. Der bayerische Ministerpräsident gefällt sich immer wieder in der Rolle des Kulturkämpfers. Am vergangenen Dienstag kündigte er unmittelbar nach Veröffentlichung der Pisa-Studie an, ein Genderverbot für die Schulen zu erlassen. Jetzt nimmt er öffentlich eine Hamburger Kita ins Visier, die angeblich Weihnachten abschaffen will. Die Bedrohung der Beschäftigten durch einen rechtsradikalen Internet-Mob nimmt er dabei augenscheinlich in Kauf.

Die „Bild“-Zeitung ritt – mal wieder – die große Attacke. „Plätzchenbacken, Schlittenfahren – und die Krönung: ein bunt geschmückter Tannenbaum. Für viele Kinder ist Weihnachten die schönste Zeit im Jahr“, so informierte sie ihre Leserinnen und Leser. „Doch in der Kita Mobi im Hamburger Stadtteil Lokstedt, die zur ‚Stiftung Kindergärten Finkenau‘ gehört, wurden die Eltern in einem Schreiben der Kita-Leitung über eine neue Regelung informiert: keine christlichen Feste, Weihnachtsbaum als ‚Symbol‘ gestrichen. Warum das? ‚Im Sinne der Religionsfreiheit‘!“
Das ist absurd. Haben wir denn keine anderen Probleme? Zu Weihnachten gehört ein Weihnachtsbaum. https://t.co/qN32oe3gFL
— Markus Söder (@Markus_Soeder) December 7, 2023
Der „Fokus“ schrieb die Story ab – und textete: „Im Sinne der Religionsfreiheit: Kita streicht Weihnachtsbaum – Eltern kritisieren ‚Cancel Culture‘“. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), dem in der vergangenen Woche als Reaktion auf die Pisa-Studie ein Genderverbot an bayerischen Schulen eingefallen war (News4teachers berichtete), nahm den Ball sofort auf. Er verteilte die „Fokus“-Meldung über X (früher Twitter) weiter und kommentierte: „Das ist absurd. Haben wir denn keine anderen Probleme? Zu Weihnachten gehört ein Weihnachtsbaum.“
„Die aktuellen Presseberichte, die unterstellen, die Kita Mobi würde christliche Traditionen abschaffen, sind falsch“
Rund 1,5 Millionen Menschen erreichte die Tirade. Das absehbare Resultat: ein Wutsturm von Rechtsaußen, der sich gegen die Kita und ihre Beschäftigten richtete. Die Einrichtung sehe sich „seither mit massiven rassistischen Drohungen, persönlichen Beleidigungen, Anschuldigungen und Erpressungsversuchen konfrontiert“, so schreibt der Träger auf der Seite der Einrichtung. Ein Online-Pflanzenhändler drang sogar ins Gelände der Kita ein, um dort, unter Beifall eines weiteren „Bild“-Berichts am folgenden Morgen, ohne Absprache mit der Leitung einen Weihnachtsbaum zu platzieren. Schlimm genug – auch wenn die Geschichte stimmen würde. Das tut sie aber nicht einmal.
„Die aktuellen Presseberichte, die unterstellen, die Kita Mobi würde christliche Traditionen abschaffen, sind falsch“, so heißt es auf der Homepage des Trägers. „Unsere Einrichtungen sind in erster Linie frühkindliche Bildungsstätten, ähnlich wie die Schulen. Im Sinne des Bildungsbereichs soziale und kulturelle Umwelt (Hamburger Bildungsempfehlungen für Kitas), lernen die Kinder neben den christlich geprägten Festen auch andere kulturelle Gepflogenheiten kennen. Dies sollte für eine weltoffene Stadt wie Hamburg selbstverständlich sein. Die vielleicht unglückliche Formulierung zur kultursensiblen Haltung der Kita mündete leider in einer falschen, da undifferenzierten, Berichterstattung.“
Denn: „Auch in diesem Jahr gibt es in allen Finkenau Einrichtungen (auch in der Kita Mobi) wieder viele weihnachtliche Bräuche wie Adventskalender, Adventskränze, Weihnachtsbäume und in einigen Kitas sind sogar Wichtel eingezogen. Zudem gibt es Dekoration wie Tannenzweige, Kugeln und Lichterketten. Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie unsere Einrichtungen die schöne Vorweihnachtszeit für die Kinder erlebbar machen. Wie bei uns seit über 47 Jahren üblich, entschieden die Teams (gemeinsam mit den Kindern), wie sie die Einrichtung schmücken wollen. In der Kita Mobi, die seit 10 Jahren besteht, habe es seither mindestens dreimal einen Weihnachtsbaum gegeben“ – in diesem Jahr eben mal nicht.
„Schämen Sie sich eigentlich nicht, dass Sie nachgewiesene Fake News verbreiten und deswegen Kita-Mitarbeiter bedroht werden?“
Mittlerweile hat auch X den von Söder weiterverbreiteten Post mit einem Warnhinweis versehen: „Es handelt sich um Falschnachrichten, die ‚Focus‘ hier verbreitet. Der Vorstand der Kita hat die Behauptung bereits eindrücklich dementiert, die Elternvertreter sind angesichts der veröffentlichten Fake News entrüstet.“
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann liest Söder die Leviten. „Schämen Sie sich eigentlich nicht, dass Sie nachgewiesene Fake News verbreiten und deswegen Kita-Mitarbeiter bedroht werden? Haben Sie denn gar kein Verantwortungsbewusstsein?“, so schreibt sie ihm via X. Reaktion von Söder: Ein Post, in dem er in einem Video zu sehen ist, im albernen Starwars-Weihnachtspullover, eine Kerze am Adventskranz anzündend: „Wünsche euch allen einen schönen 2. #Advent! Worauf freut ihr euch am meisten in der #Adventszeit?“ Eine Entschuldigung bleibt aus.
Wünsche euch allen einen schönen 2. #Advent! Worauf freut ihr euch am meisten in der #Adventszeit? 🎄 pic.twitter.com/xbH9tD7X8R
— Markus Söder (@Markus_Soeder) December 10, 2023
Dabei weiß Söder sehr wohl, was er mit solchen Posts anrichtet. Bereits 2019 hetzte er gegen eine Hamburger Kita, die in einem Elternschreiben darum gebeten hatte, Kinder nicht in Kostüme zu stecken, die Stereotype wie Geschlecht, Hautfarbe und Kultur bedienen. „Bild“ behauptete: „Erste Kita verbietet Indianer-Kostüme“. Söder griff den vermeintlichen Fall von „Cancel Culture“ in seiner Rede beim politischen Aschermittwoch der CSU auf: „Wenn die Welt wüsste, über welchen Quatsch wir streiten, hätte die Welt keinen Respekt vor uns. Wir müssen wieder vernünftig werden“, polterte er. Auch damals war die Folge ein Shitstorm gegen die Kita-Beschäftigten – und: Auch die Behauptung war falsch. Ein Verbot hatte es nie gegeben.
Was für Hassbotschaften damals bei der Kita eingegangen sind und wie das Team darauf reagierte, haben zwei Betroffene in einem Bericht zusammengefasst. Er ist hier abrufbar. News4teachers
Genderverbot in Schulen: Die Union betreibt den Kulturkampf der AfD – und wertet sie damit auf
