BERLIN. Alle drei Jahre müssen Deutschlands Schülerinnen und Schüler zum Pisa-Test. Die Ergebnisse werden seit dem sogenannten Pisa-Schock von 2001 jedes Mal mit Spannung erwartet – so auch am morgigen Dienstag, wenn die neueste Studie vorgestellt wird. Absehbar ist: Deutschland Bildungssystem wird wieder ein schlechtes Zeugnis bekommen. Der Philologenverband warnt zwar davor, die Ergebnisse überzubewerten. Das Institut der deutschen Wirtschaft zeigt sich aber alarmiert.
„Pisa“ stand früher einfach nur für den berühmten schiefen Turm. Seit mehr als 20 Jahren löst das Wort aber auch regelmäßig Diskussionen über Schieflagen im deutschen Bildungssystem aus. Im Drei-Jahres-Rhythmus treten weltweit Hunderttausende 15-Jährige beim „Programme for International Student Assessment“ (Pisa, Programm für internationale Schülerbewertung) an. Die Federführung hat die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ziel der Erhebung ist es, herauszufinden, wie die Kompetenzen der stichprobenartig ausgewählten Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften gegen Ende ihrer Pflichtschulzeit sind.
Eigentlich hätten die laufenden Tests schon 2021 stattfinden sollen, wegen Corona wurden sie um ein Jahr verschoben. Im März und April 2022 wurden fast 8.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland wieder dafür getestet. Seitdem wurden die Daten ausgewertet und aufbereitet. Wie die Bundesrepublik im internationalen Vergleich abgeschnitten hat, wird erst morgen klar sein.
„Andere Länder machen es vor: Man kann Schulsysteme umbauen, so dass sie modern und gerecht werden“
Allerdings lässt sich jüngsten Äußerungen von Pisa-Koordinator Prof. Andreas Schleicher entnehmen, dass die Ergebnisse für Deutschland erneut – nach 2018 – nach unten weisen. „Soziale Beteiligung ist das große Thema unserer Zeit und tatsächlich sind die spannendsten Ergebnisse der aktuellen PISA-Studie für mich, dass wir das erreichen können, dass wir das Potenzial aller jungen Menschen wirklich einbringen können in dieser Gesellschaft. Was man dafür braucht, ist wirkliches ‚Leadership‘, Menschen, die bereit sind, das Richtige zu tun und sich einzusetzen, auf jeder Ebene des Systems“, so schreibt er aktuell in einem Gastbeitrag für die Online-Ausgabe des ZDF-Wissensmagazins „Terra X“ (News4teachers berichtete). Und weiter: „Andere Länder wie Portugal und Finnland machen es vor: Man kann Schulsysteme umbauen, so dass sie modern und gerecht werden. Das ist auch in Deutschland machbar.“
Heißt offensichtlich: Die Bundesrepublik scheitert einmal mehr an dem Anspruch, Kinder und Jugendliche, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden können, so zu fördern, dass sie keine gravierenden Nachteile in der Bildung erleiden müssen. Der Befund ist so alt wie die Studie selbst. Schon in der ersten Runde 2001 hatte Deutschland schlecht abgeschnitten, außerdem stand ein beschämend enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen im damaligen Pisa-Zeugnis. Beides hatte große Debatten ausgelöst. Danach ging es in den Pisa-Studien zwar stetig bergauf mit den Ergebnissen, aber seit ein paar Jahren sinken die Werte wieder.
„Bei der vergangenen Erhebung waren die deutschen Schülerinnen und Schüler zwar besser als der OECD-Schnitt, doch der Trend zeigte deutlich nach unten. Und: In kaum einem anderen Land war der Leistungsunterschied zwischen schwachen und starken Schülern so groß wie in Deutschland“, so resümiert das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) aktuell die letzte Pisa-Studie von 2018. „Der Grund: Die soziale Herkunft hat nach wie vor einen großen Einfluss darauf, wie gut Kinder in der Schule abschneiden – in den vergangenen Jahren hat dieser Zusammenhang sogar noch zugenommen. Vor allem zugewanderte Kinder haben es aufgrund der Sprachbarriere schwerer, dem Unterricht zu folgen. Die Eltern, die im Zweifel auch nicht gut Deutsch sprechen, können nicht so gut unterstützen.“
Die Probleme dürften laut IW nun kaum kleiner werden – im Gegenteil. Es schreibt mit Blick auf das Bildungssystem von „Mangel, Mangel und noch mehr Mangel“. Berechnungen des Instituts zeigen, dass 2023 fast 300.000 U3-Kitaplätze in Deutschland fehlten. „Dabei ist gerade die frühkindliche Bildung wichtig, um Lernrückstände auszugleichen. In den Grundschulen ist die Situation nicht besser: Während im Stadtstaat Hamburg jedes Grundschulkind einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz hat und diesen auch bekommt, fehlten bundesweit im Schuljahr 2021/2022 529.000 Ganztagsbetreuungsplätze“, so heißt es.
“Die vielen eingewanderten Kinder müssen besser integriert werden, sie brauchen Sprachförderung, Ganztagsangebote und die Möglichkeit, eine Kita zu besuchen”
Als weiteres Problem wird ausgemacht: „Es gibt zu wenige Lehrer, der Fachkräftemangel greift auch hier um sich. Nach IW-Berechnung bräuchte es im Schuljahr 2030/31 987.000 Lehrer, unterrichten werden voraussichtlich aber nur 907.000 Lehrer – eine Lücke von 80.000. Schulleiter sehen in Befragungen den Personalmangel inzwischen als größte Herausforderung für Schulen.“ Was ist aus Sicht der Wirtschaftsforscherinnen und -forscher zu tun? „Einerseits müssen die vielen eingewanderten Kinder und ihre Familien besser integriert werden, sie brauchen Sprachförderung, Ganztagsangebote und die Möglichkeit, eine Kita zu besuchen. Andererseits braucht das deutsche Schulsystem mehr Quereinsteiger, um etwa mehr MINT-Lehrkräfte an die Schulen zu bringen. Das sind die Hausaufgaben, die die Politik auf dem Zettel hat, um den Negativ-Trend nachhaltig umkehren“, so heißt es.
Seit es die Studie gibt, wird sie allerdings auch kritisiert – aktuell von der Vorsitzenden des Philologenverbands, Prof. Susanne Lin-Klitzing. Sie schreibt in einem Gastbeitrag für die „Welt“ von einer „überschätzten Bildungsstudie“. Die Deutschen würden zwar absehbar wieder über die Ergebnisse jammern. Dabei seien die Daten in vielerlei Hinsicht fragwürdig. Lin-Klitzing: „Die Begrenzung von Pisa mit seinem Fokus auf den punktuellen Output von Basiskompetenzen und ‚Employalibility‘, also der Fähigkeit, auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, ist erkannt. Ebenso, dass aus Pisa Schulleistungsvergleiche zwischen Ländern resultieren, die in ihrem gesellschaftspolitischem Aufbau ansonsten kaum vergleichbar sind, wie zum Beispiel asiatische mit mitteleuropäischen Gesellschaften.“
Tatsächlich testet Pisa nicht, was die Schülerinnen und Schüler wissen – sondern was sie mit ihrem Wissen machen. In den Worten der OECD klingt das so: „Pisa fragt nicht Faktenwissen ab, sondern untersucht, ob Schülerinnen und Schüler ihr Wissen anwenden und Informationen sinnvoll verknüpfen können.“ Und lassen sich Kinder und Jugendliche völlig verschiedener Kulturen darin wirklich miteinander vergleichen? Ja, sagen die Pisa-Verantwortlichen in Deutschland vom Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB) an der TU München. Alle bekämen dieselben Aufgaben. Diese würden vorher in einem Jahre andauernden Prozess von internationalen Expertinnen und Experten entwickelt, hin und her übersetzt, so dass sie überall gleich schwer seien. „Man tut alles dafür, dass die Aufgaben in allen Ländern gleich funktionieren“, sagt der Bildungsforscher Prof. Olaf Köller aus dem deutschen Pisa-Team. „Aufgaben die bei den Tests in einzelnen Ländern als besonders leicht oder schwer auffallen, werden in der Regel entfernt.“
„Unterricht kann nicht über empirisch-quantitative Untersuchungen ‚gesteuert‘ beziehungsweise verbessert werden“
Lin-Klitzing macht allerdings nicht nur methodische Schwächen aus. Grundsätzlich kritisiert sie an der empirischen Bildungsforschung, dass daraus zu wenig schulpraktische Erkenntnisse resultieren, die Schulen für ihre Arbeit nutzen können: „Pisa – auch andere Studien wie Timss, Iglu & Co. – wollten und wollen Steuerungswissen erbringen; Steuerungswissen für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme. Bei dem Versuch der Steuerung über Bildungsstandards bemerken Forscherinnen und Forscher in Deutschland nun rückblickend, dass die Lehrkräfte bei diesem Top-Down-Verfahren zu wenig mitgenommen wurden. Unterricht kann auch nicht über empirisch-quantitative Untersuchungen ‚gesteuert‘ beziehungsweise verbessert werden.“ Insofern habe Pisa eben nicht die Revolution des Unterrichts gebracht.
Lin-Klitzing: „Pisa fokussiert eine auf ausgewählte Kompetenzen fokussierte ‚Produktmessung‘, es geht nicht um eine individuelle Fortschrittsberichterstattung, wie sie in der nationalen Diskussion um Bildung und guten Unterricht Bedeutung hat. Es geht um Performanzmessung an dem einem Tag im Zustand der jeweiligen Tagesform.“
Dagegen wäre einzuwenden, dass von Tagesform wohl kaum die Rede sein kann, wenn die wesentlichen Befunde seit über 20 Jahren immer wieder bestätigt werden, auch von anderen Schülerleistungsvergleichen. So rechnet Pisa-Vertreter Prof. Köller damit, dass die aktuelle Testrunde erneut zeigen wird, dass bis zu einem Viertel der 15-Jährigen an den einfachsten Aufgaben in Lesen, Mathe und Naturwissenschaften scheitert (wie er bereits vor einem Jahr vorhersagte) – heißt: Aus dem „Pisa-Schock“ von 2001 hat die Bildungspolitik praktisch nichts gelernt. Auch das ist ein Befund. News4teachers / mit Material der dpa