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Pisa-Forscher stellen “Niedergang des Gymnasiums” fest – und machen die schlechte Unterrichtsqualität dafür verantwortlich

BERLIN. Die Pisa-Bildungsforscher*innen Prof. Doris Lewalter und Prof. Olaf Köller haben mit Blick auf die aktuellen Studienergebnisse scharfe Kritik am vermeintlichen Flaggschiff der schulischen Bildung in Deutschland geübt: den Gymnasien. „Wir erleben sogar einen regelrechten Niedergang des Gymnasiums“, sagt Köller in einem Interview mit der „Zeit“.

Unsinkbar? Illustration: Shutterstock

Deutsche Gymnasiastinnen und Gymnasiasten erreichten in Mathematik durchschnittlich 546 Punkte – und liegen damit über dem Durchschnitt der Jugendlichen im neuen Pisa-Spitzenreiterland Japan.

Gefragt, ob die Welt am Gymnasium also noch in Ordnung sei, antwortet Lewalter in einem Interview mit dem „Spiegel“: „Mitnichten. Im Vergleich zu 2009 haben die Gymnasiasten in Mathematik rund 50 Punkte verloren, das entspricht etwa eineinhalb Schuljahren. Ein bitteres Ergebnis. Und auch am Gymnasium fallen mittlerweile vier Prozent der Jugendlichen in die Kategorie ‚leistungsschwach‘. Vor zehn Jahren waren es noch weniger als ein Prozent. Insgesamt hat sich die Gruppe der Leistungsstarken fast halbiert, seit Mathematik 2012 zuletzt als Schwerpunkt bei Pisa getestet wurde.“

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Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten hätten damit mehr abgebaut als die Schüler und Schülerinnen der anderen Schularten, betont die Professorin für Formelles und Informelles Lernen an der Technischen Universität München und Leiterin des deutschen Teils der aktuellen Pisa-Studie.

Danach erfüllen etwa neun Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland (ein ebenso hoher Anteil wie im OECD-Durchschnitt) die Anforderungen von Stufe 5 oder 6 des PISA-Mathematiktests und zählen damit in diesem Bereich zu den besonders leistungsstarken. In sechs asiatischen Ländern und Volkswirtschaften ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die diesen Anforderungen genügen, am größten: Singapur (41 Prozent), Chinesisch Taipei (32 Prozent), Macau (China) (29 Prozent), Hongkong (China) (27 Prozent), Japan (23 Prozent) und Korea (23 Prozent). Diese Schülerinnen und Schüler können der Studie zufolge komplexe Situationen mathematisch modellieren und sind in der Lage, geeignete Problemlösungsstrategien auszuwählen, zu vergleichen und zu evaluieren.

„Das Gymnasium kann sich nicht damit herausreden, dass die falschen Schüler kommen. Es liegt an der Unterrichtsqualität“

Köller, der frühere Pisa-Studien in Deutschland geleitet hat und mittlerweile der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz vorsitzt, ergänzt mit Blick auf Deutschland: „Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sich die Schülerschaft am Gymnasium in den vergangenen zehn Jahren kaum verändert hat. Die Gymnasien tragen nicht die Last der Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, nicht die Last der Integration zugewanderter Kinder und Jugendlicher. Das Gymnasium kann sich nicht damit herausreden, dass die falschen Schüler kommen. Es liegt an der Unterrichtsqualität.“

Hintergrund: Köller ist auch Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel, wo Konzepte für den Mathe-Unterricht entwickelt werden.

Lewalter betont: „Aus den Daten zur Lernmotivation erkennen wir, dass der Unterricht die Schülerinnen und Schüler nicht mehr so gut erreicht – gerade am Gymnasium. Zwischen 2012 und 2022 gab es einen massiven Einbruch bei der Freude und dem Interesse am Fach Mathematik. Der Unterricht, der damals gut und passend war, passt offenbar nicht mehr zu den Jugendlichen von heute. Sie sehen darin keinen Nutzen für ihr Leben.“

„Erstmals gibt es an Gymnasien sogar in nennenswerter Zahl Jugendliche, die nicht ausreichend lesen und rechnen können“

Die Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher hätten beobachtet, dass es im Unterricht häufig schlichte Berechnungen und einfache Anwendungsaufgaben gebe. „Eine Art Rechentraining, relativ wenig kreative Auseinandersetzung mit Mathematik. Da gibt es nur wenige Anknüpfungspunkte zur Lebenswelt. Jugendliche stellen sich die Frage: Warum soll ich das lernen? Mangelnde Motivation schlägt sich dann letztlich auch in der Leistung nieder“, sagt die Vorstandsvorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien.

Köller erklärt im „Zeit“-Interview: „Wir erleben sogar einen regelrechten Niedergang des Gymnasiums.“ Lewalter ergänzt: „Erstmals gibt es an Gymnasien sogar in nennenswerter Zahl Jugendliche, die nicht ausreichend lesen und rechnen können: 4 Prozent.“ Ungläubige Nachfrage der Redaktion: „Auf dem Gymnasium?“ Lewalter: „Ja, auf dem Gymnasium.“ News4teachers

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