DÜSSELDORF. Um Seiteneinsteiger*innen ist längst eine politische Debatte entbrannt: Sind sie eher eine Bereicherung oder eine Belastung für die Schulen? Wo können sie entlasten und wo nicht? Diesen Fragen geht der zweite Teil von Laura Millmanns Podcast-Reportage „Plötzlich Lehrer“ nach. Seiteneinsteiger Andre Diehl steht vor neuen Herausforderungen.
Wir befinden uns im September 2020 in Andre Diehls neu eingerichtetem Arbeitszimmer zu Hause. Als Seiteneinsteiger unterrichtet er nicht nur an der Emschertal-Grundschule, sondern ist auch an einer anderen Dortmunder Grundschule im Einsatz. Keine Seltenheit bei Seiteneinsteiger*innen. Zudem wird Andre Diehl vermehrt für Vertretungsstunden eingesetzt und muss daher auch mal fachfremd unterrichten. „Das ist so als Fachlehrer. Als Klassenlehrer bist du halt häufiger in deiner Klasse, als Fachlehrer springst du da ein, wo Bedarf ist. Das ist völlig okay, aber es ist halt anstrengender, als wenn ich in eine von mir vorbereitete Stunde gehe“, so der Dortmunder.
Vorgaben für den Seiteneinstieg
Vom Schulministerium in NRW gibt es klare Vorgaben, was den Seiteneinstieg angeht. Auf der Internetseite des Ministeriums heißt es: „In der Grundschule ist der Seiteneinstieg nur für die Fächer Kunst, Musik, Sport und Englisch möglich.“ In den Fächern Mathematik und Deutsch seien die Anforderungen zu hoch, weshalb der Seiteinstieg dort nicht möglich sei. So die Theorie. Die Praxis zeigt jedoch, dass Schulleitungen häufig anders handeln müssen, denn sie können ja nur das Personal einsetzen, das sie nun mal haben. Auch Andre Diehl hat neue Aufgaben zugeteilt bekommen. Gemeinsam mit einer Kollegin unterrichtet er nun Sachunterricht in der vierten Klasse. „Sodass ich da auch reinwachsen kann und in Zukunft den Sachunterricht dann auch regulär anbieten kann. Das ist schon spannend.“
Der Seiteneinstieg als Verbrechen an den Kindern?
Die Frage, die auch von Bildungsexpert*innen diskutiert wird, lautet: Sind Seiteneinsteiger*innen eine Bereicherung oder eine Belastung fürs System? Im Jahr 2019 hatte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, die überspitzte These aufgestellt, dass der Seiteneinstieg vor allem an Grundschulen ein Verbrechen an den Kindern sei. Bildungsstandards würden dadurch herabgesetzt, denn in einigen Bundesländern müssten Seiteneinsteiger*innen nur einen Crashkurs absolvieren, um als Lehrkraft arbeiten zu können. Dies sei eine Entwertung des Lehrerberufs.
Ein Argument für den Seiteneinstieg ist hingegen, dass die Seiteneinsteiger*innen durch ihre Lebenserfahrung neue Impulse in die Schule bringen. Dies bestätigt auch Andre Diehls Kollegin, Nicole Conrad. Sie räumt allerdings ein, dass es oftmals im Schulalltag an zeitlichen Ressourcen fehle, um die Seiteneinsteiger*innen adäquat zu unterstützen. In der Handreichung für Seiteneinsteiger*innen des Schulministeriums NRW steht, dass jedem Seiteneinsteiger ein erfahrener Kollege oder eine erfahrene Kollegin zur Seite gestellt werden soll. Dafür bekommt „erfahrene Lehrkraft“ eine sogenannte Anrechnungsstunde, muss also eine Stunde weniger unterrichten. Dies reiche aber leider nicht aus, sagt Nicole Conrad. „Eigentlich müssen sich die armen Seiteneinsteiger auch son bisschen selber retten“, so ihre Einschätzung.
Ein weiteres Problem sei, dass Seiteneinsteiger*innen eigentlich nicht ins System Grundschule passten. „Generell ist es ja in der Grundschule so, dass wir ein Klassenlehrersystem haben. Eigentlich findet fast alles beim Klassenlehrer statt. Und die Seiteneinsteiger sind in der Regel Fachlehrer. Das heißt, sie kommen mit einem Fach in ein System, das nur ganz wenige Stunden unterrichtet wird und deswegen ist es nicht passgenau. Es werden Menschen eingestellt, die für das System einfach nicht passend sind und das System muss es auffangen.“ Somit sieht Nicole Conrad den Seiteneinstieg nicht nur als Bereicherung für das Schulsystem, sondern auch als Belastung für die Kollegien.
Ausbilden, nicht nur wenn die Hütte brennt
Diese Einschätzung teilt der Osnabrücker Bildungsforscher Aladin el-Mafaalani. Er fordert deshalb, dass ein sinnvolles Aus- und Fortbildungssystem für Seiteneinsteiger*innen geschaffen werden müsse. Zudem sollten Seiteneinsteiger*innen immer ausgebildet werden, nicht nur in Zeiten des akuten Mangels. „Weil diese Logik, nur dann Feuerwehrleute auszubilden, wenn die Hütte schon brennt, das ist so das Dümmste, was man machen kann.“
Andre Diehl hat die Erfahrung gemacht, dass man als Seiteneinsteiger genau schauen muss, wie und wo man wirklich unterstützen kann. „Mit Berufserfahrung hat man einiges erlebt und bringt eine andere Perspektive mit“, erläutert er. „Dennoch muss man sich erst ins Schulsystem einfinden und genau schauen, an welcher Stelle man eine Bereicherung sein kann und wo eben auch nicht.“ Er selbst ist mit seiner ersten Stunde Sachunterricht ohne die Begleitung seiner Kollegin Nicole Conrad zufrieden und freut sich über diese neue Herausforderung. Schritt für Schritt will er auf seinem Weg weiter ins System hineinwachsen. News4teachers / Die Recherche für diese Reportage wurde finanziert vom Verein für Recherche und Reportage e.V., Musik: © pixabay
Hier geht es zu weiteren Folgen der Podcast-Reportage “Plötzlich Lehrer!” – sowie zu weiteren Folgen des News4teachers-Podcasts Schulschwatz:
Den Podcast finden Sie auch auf