DÜSSELDORF. Jochen Ott ist Lehrer von Beruf – und womöglich 2027 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Schon jetzt prägt der SPD-Fraktionschef (und damit wohl gesetzter Herausforderer von Amtsinhaber Hendrik Wüst, CDU) die Bildungspolitik seiner Partei über die NRW-Landesgrenzen hinaus. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek sprach mit dem gebürtigen Kölner über die Herausforderungen, vor denen die Schulen nicht nur im bevölkerungsreichsten Bundesland stehen. Teil zwei des großen Interviews.
Hier geht es zurück zu Teil eins.

News4teachers: Also die multiprofessionelle Schule als Antwort auf die PISA-Herausforderung?
Ott: Genau.
News4teachers: Auch als Antwort auf den Lehrkräftemangel?
Ott: In den nächsten zehn Jahren: Ja. Die Schulministerin sagt selber, sie wird den Lehrkräftebedarf erst 2033 irgendwie wieder decken können. Wir sind jetzt in diesem klassischen Schweinezyklus. Den haben wir gefühlt in der Schulpolitik seit Humboldt – es herrscht entweder Lehrermangel oder Lehrerschwemme. Wir haben es nie hingekriegt, das mal gerade zu ziehen. Diese Lage müssen wir erst mal zur Kenntnis nehmen. Die Ministerin behauptet immer, sie hätte den Schulen ganz viel Personal zugeführt. Fakt ist aber, es sind noch mehr Lehrkräfte in Ruhestand gegangen und werden noch weitere in Ruhestand gehen. Und es gibt darüber hinaus immer mehr Lehrerinnen und Lehrer, die aus dem System aussteigen, 800 sind es in NRW allein in diesem Jahr. In dieser Situation ist es sinnvoll, Expertise von außen in die Schulen hineinzuholen – auch mit Blick auf komplexer gewordene Schülerschaften, die besondere Unterstützungsbedarfe haben.
News4teachers: Müssen wir nicht auch darüber sprechen, Lehrkräfte zu entlasten? Wenn man sich zum Beispiel Arbeitszeitstudien anschaut, dann sieht man, dass Korrekturen insbesondere an den Gymnasien ein sehr großes Volumen beanspruchen. Muss das wirklich jede Lehrkraft für sich machen – oder ließen sich Korrekturen nicht auch an Externe delegieren?
Ott: Wir haben hier gerade einen Antrag zur Lehrerarbeitszeit eingebracht. Hamburg hat dafür ein gutes Modell für eine Lehrerarbeitszeit entwickelt, die komplett anders aufgebaut ist als bei uns. Darin wird die Lehrerarbeitszeit auf das Jahr umgerechnet – pro Woche wird da von ca. 46 Stunden ausgegangen. Und dann wird genau festgelegt, wie viel Prozent davon ist Unterricht, wie viel davon sind Konferenzen. Alle haben immer auch Zeitraum für Schulentwicklung, für Fortbildung, ist alles mit in dem Modell drinnen. Und dann gibt es einen Quotienten, nachdem die Unterrichtszeit der einzelnen Fächer berechnet wird – weil die Frage der Korrektur dabei eine zentrale Rolle spielt, die Belastung dadurch aber sehr unterschiedlich ist. Auch Klassenleitung ist eine starke Belastung, wenn du das gut machst. Das Hamburger Modell muss sicherlich weiterentwickelt werden, weist aber vom Grundsatz her in die richtige Richtung. Insofern: Ja, wir brauchen ein anderes Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte. Und wir müssen die Frage stellen, ob es eigentlich sinnvoll ist, wenn die Leute sich wund korrigieren? Ich habe gerade eine Anfrage von einem Bündnis von Fachleiterinnen und Fachleitern auf dem Tisch, die sich die Frage stellen, wieso Klausuren eigentlich sechs Stunden geschrieben werden müssen? An der Uni werden in vielen Fächern nur noch anderthalbstündige Klausuren geschrieben. Dazu kommt: Wir haben heute viel intelligentere Prüfungsmodule, um herauszufinden, was Schülerinnen und Schüler können. Ich bin nicht der Meinung, dass jetzt nur noch Multiple Choice stattfinden soll, keine Sorge. Aber so, wie es ist, ist es auch einseitig. Da könnte man entlasten.
News4teachers: In dem Beschluss, der auf dem SPD-Parteitag gefasst wurde, wird auch das Thema Inklusion angesprochen. „Für echte Inklusion braucht es politischen Willen“, heißt es darin. Haben Sie den?
Ott: Ich habe den. Wir brauchen sowohl bei der Inklusion wie auch bei der Integration nicht nur den politischen Willen, etwas umzusetzen, sondern wir müssen vor allen Dingen deutlich machen, dass es dabei gerecht zugehen muss. Den Fehler, den man oft gemacht hat und der heute immer noch gemacht wird, ist, dass die Mittelschicht und die unteren Mittelschichtmilieus meist allein vor die Herausforderung gestellt wird, Integration und Inklusion zu stemmen – während diejenigen, die ökonomisch besser gestellt sind, diesbezüglich nur wenig bis gar nichts zu meistern haben.
Ich war vor kurzem in Gelsenkirchen bei einer Podiumsdiskussion in einer Grundschule, wo das Kollegium nur noch zu 60 Prozent aus grundständig ausgebildeten Lehrkräften besteht. Die übrigen sind Seiteneinsteiger oder Alltagshelfer. Der Migrationsanteil liegt bei 90 Prozent, die Bürgergelddichte ist sehr hoch. Dort wurde mir die Frage gestellt, ob es denn richtig sei, dass Eltern von dort ihre Kinder an eine andere Schule bringen? Darauf habe ich geantwortet: „Das kann ich gut verstehen. Die Eltern sagen sich, ich möchte, dass es meinem Kind gut geht, dass es gute Bildungschancen bekommt. Wenn ich mein Kind hier vor Ort anmelde, muss es zusätzlich noch Integrations- und Inklusionsleistung für diese Gesellschaft erbringen – und niemand unterstützt es dabei. Die Mittelschicht ist erschöpft.“ Als ich das gesagt habe, habe ich Riesenapplaus gekriegt, weil die Politik die Menschen vor Herausforderungen stellt, sie dann aber nicht unterstützt.
Hamburg zum Beispiel hat in Brennpunkt-Grundschulen 17, 18 Kinder in der Klasse. In Köln und Düsseldorf sind es 30. Ich war kürzlich in einer Schule in Düsseldorf, wo von 32 Kindern einer Klasse über 20 kein Deutsch sprechen, weil sie als Flüchtlingskinder dazugekommen sind. Da sagen viele Eltern – übrigens interkulturell: „Das kann doch nicht wahr sein. Ich möchte, dass mein Kind ein Aufstiegsversprechen bekommt.“ Und deshalb müssen zum Ausgleich die Klassengrößen an solchen Standorten massiv gesenkt werden. An diesen Schulen muss viel mehr investiert werden.
Wenn du das nicht tust, kannst du von den Menschen nicht erwarten, dass sie diese Politik stützen. Und das bedeutet andererseits, dass man Schulen mit höheren Belastungen im Vergleich eben besser ausstatten muss. In Hamburg ist es zum Beispiel so, dass jede Stadtteilschule 30 Prozent mehr Personal kriegt als die Gymnasien. Das ist mit der absoluten Mehrheit der SPD damals durchgesetzt worden. Das war der richtige Schritt. Wir müssen Ungleiches ungleich behandeln. Und das gilt auch für die Inklusion. Sie wird nur funktionieren, wenn die Leute nicht das Gefühl haben, dass es nur eine Alibi-Inklusion ist, eine Billigvariante, mit der sie und ihr Kind dann allein gelassen werden.
News4teachers: Das heißt aber, in den Verteilungskampf um Ressourcen einzusteigen – und notfalls auch Zielgruppen, die wahlentscheidend sein können, dann etwas wegzunehmen. Gymnasialeltern sind eine starke Lobby…
Ott: Jemand, der Schulministerin oder Schulminister sein will, muss den Mut haben, das Richtige zu tun – und sich notfalls auch mit Leuten anzulegen. Entweder wir regieren, um objektiv Probleme zu lösen. Oder wir regieren nur, um unsere eigenen Supporter zu unterstützen. Die Sozialdemokratie hat Deutschland seit 1918 an vielen Stellen gedient und ihre eigenen Leute schweren Zumutungen ausgesetzt: bei den Notstandsgesetzen zum Beispiel, dem Nato-Doppelbeschluss oder der Hartz-IV-Reform. Wer hat dafür die Schläge bekommen?
News4teachers: Sie sind Geschichtslehrer, man hört es…
Ott (lacht): Ja, tut mir leid. Aber die Sozialdemokratie hat das immer ausgezeichnet, dass sie an das Land zuerst gedacht hat – erst dann an die Partei. Bei der CDU gab es das eigentlich nur einmal, nämlich bei der Wiedervereinigung. Die hat Helmut Kohl durchgezogen, auch gegen Widerstände, das muss man anerkennen. Ich muss von Verantwortungsträgern erwarten, dass sie Probleme seriös angehen. Und ich glaube, dass es für Lösungen auch eine Mehrheit im Land gibt – wenn man erklärt, worum es geht. In der aufgeheizten Welt, in der wir leben, muss eine gemeinsame ethische Grundlage da sein. Bildung ist die beste Versicherung gegen Unfrieden. Und von gesellschaftlichem Frieden profitieren wir am Ende alle.
News4teachers: Das führt uns direkt zur politischen Bildung und zur Demokratiebildung. Sie sind Sozialwissenschaftslehrer, Geschichtslehrer. Umfragen, nach denen auch unter jungen Menschen die AfD relativ stark ist, müssen Sie besonders schmerzen.
Ott: Natürlich. Und ich weiß, dass die AfD bei TikTok höhere Klickzahlen hat als alle anderen Parteien zusammen. Wir werden niemals auf diese Art und Weise hetzen und versuchen, über Beleidigungen oder Beschämungen von Menschen unsere Reichweite zu erhöhen. Deshalb ist die Frage nach der Medienkompetenz, das Gespräch mit den Jugendlichen über das, was in den Medien stattfindet, zentral. Ich habe unlängst mit Lehrkräften gesprochen, die mir berichtet haben, dass Fünf-, Sechstklässler mit Fotos von den Massakern in Nahost über den Schulhof laufen. Diese Bilder, die die Schülerinnen und Schüler sehen, sind so schlimm, so etwas mussten wir als Kinder nie sehen. Das betrifft auch das Thema Sexismus. Was heute an pornografischen Inhalten von Jugendlichen gesehen wird, steht in keinem Verhältnis zu dem, was jede Generation vorher zu sehen bekam. Und das löst enorme Entwicklungen aus – gegen die sich nur in der Schule angehen lässt. Weil nur da alle Kinder und Jugendliche zu erreichen sind.
Dazu musst du aber unsere Lehrkräfte entsprechend fortbilden – und ihnen auch die Zeit geben. Wenn ich höre, es fehlt die Zeit für eine KZ-Gedenkstätten-Fahrt, weil die Klassenarbeiten geschrieben werden müssen, dann wird mir anders. Und wenn ich gesagt bekomme: „Der Besuch des Bundestages oder des Landtages geht nicht, weil an dem Tag ein Vokabeltest angesetzt ist“ – dann ist die Prioritätensetzung aus meiner Sicht falsch. Wir müssen in der Schule junge Menschen zu demokratischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern erziehen. Wenn die nur durch die Schule gehetzt werden und gar keine Zeit haben, sich mal intensiv mit der Menschenwürde zu beschäftigen, dann verlieren wir unsere Basis.
News4teachers: Sind unsere Lehrpläne zu voll?
Ott: Ja. Lehrpläne müssen radikal zusammengestrichen werden. Nummer eins der Erfolgsfaktoren gegen die PISA-Katastrophe ist aus meiner Sicht, den Lehrkräften mehr zu vertrauen. Das sind studierte Leute. Die allermeisten von denen sind hoch engagiert und positiv bekloppt, sonst würden sie so einen Job nicht machen. Die mögen Kinder.
Und wenn wir den Lehrerinnen und Lehrern und vor allem dann auch den Schulleitungen die Möglichkeit geben, vor Ort zu schauen, wie sie die deutlich verknappten Lehrpläne umsetzen, sodass wir am Ende zu einer Output-Steuerung kommen, indem wir in den einzelnen Entwicklungsstufen nur noch zentral kontrollieren, ob Grundkenntnisse vorhanden sind, dann kommen wir weiter. Grundsätzlich muss gelten: “Liebe Lehrkräfte, wir vertrauen euch.”
Ich habe zum Beispiel einen Schulleiterkollegen von einer Gesamtschule, der nach Corona feststellte, dass die Schülerinnen und Schüler große Defizite im Lesen aufgebaut haben. Der hat von sich aus entschieden, die Fünft- und Sechstklässler eine Stunde in der Woche nur Lesen zu lassen. Fehlt nur noch, dass einer aus der Behörde sagt: „Das darfst du aber nicht.“ Wir brauchen mehr Freiheit für die Schulen. Ich würde den Schulen auch perspektivisch die Möglichkeit geben, Lehrkräfte selber einstellen zu können. Dazu könnte man ihnen Verwaltungsleitungen an die Seite stellen, die das organisieren.
Ich glaube, die Befreiung des Schulsystems liegt in dem Prinzip, das vor 30 Jahren Johannes Rau schon mal aufgestellt hat: die Selbständigkeit der Schule. Immerhin sind in vielen Schulen 50, 80, 100, 120 Beschäftigte. Das sind alles mittelständische Unternehmen. Ich glaube, die meisten würden ihren Betrieb sehr gut selber organisieren, ohne die Schulaufsicht von oben. Gleichzeitig brauchen wir eine Vereinheitlichung der Strukturen auf Bundesebene, weil – Föderalismus hin oder her – die Kleinstaaterei auf Dauer nicht zukunftsfähig ist. Wir benötigen gleiche Standards auf Bundesebene. News4teachers
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