KONSTANZ. Ein Forschungsprojekt der Universität Konstanz untersucht, ob Schülerinnen und Schüler die (frühe) Aufteilung auf unterschiedliche Schulformen als fair empfinden. Die meisten tun das offenbar. Außer: Hauptschüler*innen und Migrantenkinder. Bei den Eltern gibt es einen überraschenden Befund.
Wenn einmal im Jahr die Schulempfehlungen anstehen, herrscht in vielen Haushalten in Deutschland angespannte Stimmung. Bereits Grundschüler*innen kennen den Begriff „Gymnasialempfehlung“ und viele fürchten ihn. Doch wie empfinden sie eigentlich ihre eigene Empfehlung für die weiterführende Schule? Betrachten sie diese als gerechtfertigt oder fühlen sie sich unfair behandelt? Und was sagen die Eltern zu den Schulempfehlungen ihrer Kinder?
Auf diese – und viele andere – Fragen will das Projekt „Students’ Perceptions of Inequality and Fairness (PerFair)“ des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz Antworten finden. Rund 3.000 Siebtklässler*innen wurden hierzu befragt. „Fest steht, dass nur wenige Kinder von Eltern, die keine akademische Bildung haben, ein Gymnasium besuchen. Dies lässt sich vor allem auf drei Ursachen zurückführen: Erstens haben diese Kinder bereits beim Schuleintritt geringere Kompetenzen als die Kinder höher gebildeter Eltern. Hier spielen Sozialisationsprozesse (z. B. eine bildungsnahe oder ferne Freizeitgestaltung im Elternhaus), aber auch Vererbungsprozesse (z. B. von intellektuellen Fähigkeiten oder Persönlichkeitseigenschaften) eine wichtige Rolle. Zweitens empfehlen ihnen Lehrerinnen und Lehrer seltener, nach der Grundschule auf das Gymnasium zu wechseln. Dies spiegelt überwiegend, aber nicht ausschließlich, die geringeren Leistungen benachteiligter Kinder wider. Drittens wenden Eltern mit höherer Bildung mehr Zeit und Energie auf, damit ihr Kind aufs Gymnasium geht und schicken es selbst dann dorthin, wenn ihnen davon abgeraten wird“, so schreiben Claudia Diehl, Professorin für Mikrosoziologie, und Thomas Hinz, Professor für empirische Sozialforschung, einleitend. All dies seien Kernbefunde der empirischen Bildungsforschung.
Neu sei nun die Perspektive der Schülerinnen und Schüler dazu. Ergebnisse: „Die meisten Schülerinnen und Schüler finden die Aufteilung auf unterschiedliche Schulformen grundsätzlich sehr oder eher fair (zwischen 70 und 80 Prozent). Am höchsten sind die Werte bei ‘Aufsteigern’ und ‘Bildungsnahen’, also bei denjenigen, die selbst ein Gymnasium besuchen.“
„Am fairsten wird die frühe Aufteilung erstaunlicherweise bei den Eltern der Gruppe der ‚Bildungsfernen‘ eingeschätzt”
Nun falle es Kindern möglicherweise schwer, sich Alternativen zum differenzierten Schulsystem vorzustellen. „Wir haben daher die gleiche Frage auch den Eltern der befragten Schülerinnen und Schüler gestellt. Tatsächlich findet bei den Eltern ein deutlich kleinerer Anteil die frühe Aufteilung nach der Grundschule fair als bei den Kindern (zwischen 50 und 65 Prozent, d. Red.). Am fairsten wird die frühe Aufteilung erstaunlicherweise bei den Eltern der Gruppe der ‚Bildungsfernen‘ eingeschätzt.“
Neben der Bewertung der Mehrgliedrigkeit wurden die Kinder dann auch nach der subjektiv wahrgenommenen Passung der von ihnen selbst besuchten Schulform gefragt. „Differenziertere Analysen zeigen, dass die Unzufriedenheit mit der persönlichen Passung auf die Gruppe der Hauptschülerinnen und Hauptschüler konzentriert ist. Über die Hälfte von ihnen sind der Ansicht, dass sie eigentlich auf einen anspruchsvolleren Bildungszweig gehören. Es gehen allerdings nur rund 10 Prozent aller Schülerinnen und Schüler auf die Hauptschule, mit abnehmender Tendenz. Real- oder Gemeinschaftschülerinnen und -schüler sind mit ihrer Schulform hingegen nicht unzufriedener als diejenigen, die ein Gymnasium besuchen. Mehrheitlich denken die unzufriedenen Jugendlichen, dass ein höherer Schulzweig besser zu ihnen passen würde.“ Auch in der Gruppe der Kinder mit Migrationsgeschichte gebe es mehr Unzufriedenheit hinsichtlich der persönlichen Passung der Schulform.
„Die allermeisten Eltern sind allerdings davon überzeugt, dass die Empfehlungen, die ihre eigenen Kinder erhalten haben, gerecht waren“
„Vielleicht erklären diese Befunde, warum trotz aller Kritik an der frühen Differenzierung festgehalten wird: Zwar wird die frühe Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Schulformen von fast der Hälfte der Eltern kritisch gesehen. Die allermeisten Eltern sind allerdings davon überzeugt, dass die Empfehlungen, die ihre eigenen Kinder erhalten haben, gerecht waren und diese die passende Schulform besuchen. Negativ betroffen sowie unzufrieden mit dem System und ihrer eigenen Position darin sind also vor allem benachteiligte Gruppen wie Hauptschülerinnen und -schüler und solche mit Migrationsgeschichte, die in der öffentlichen Debatte meist wenig zu Wort kommen“, so schlussfolgern die Autor*innen.
Das Problem: „Der richtige Bewertungsmaßstab für Sinn oder Unsinn der Mehrgliedrigkeit bleibt oft unklar. Ist entscheidend, in welchem System benachteiligte Kinder mehr Kompetenzen erwerben oder in welchem sie höhere Abschlüsse erzielen? Betrachtet man nur die akademischen Folgen einer frühen separaten Beschulung? Oder berücksichtigt man auch die gesellschaftlichen Folgen eines frühen Auseinanderdriftens der Lebenswelten von Kindern studierter und nicht studierter Eltern? Ist die Mehrgliedrigkeit an sich das Problem oder eher die unfaire Zuweisung?“ Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, steht oder fällt die Akzeptanz des gegliederten Schulsystems. News4teachers
Der Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ befasst sich in mehreren Forschungsprojekten mit Bildungsungleichheiten: Wie werden deren Ausmaß und Ursachen wahrgenommen? Welche Folgen haben sie für die Akzeptanz des Bildungssystems und die Bereitschaft, etwas zu verändern? Welche Rolle spielt Bildungsungleichheit für politische Einstellungen und Partizipation? Die jüngste Ausgabe des In_equality Magazins „(Un)gleiche Chancen“ (in dem die Studienergebnisse zu finden sind) ist den verschiedenen Aspekten sozialer Ungleichheit gewidmet: soziale Mobilität, Meritokratie, Bildung und Aufstiegsversprechen. Hier lässt es sich herunterladen.
OECD: Gegliedertes Schulsystem erschwert Bildung für Einwandererkinder