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IW-Studie: Dramatische Einbrüche bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen – auf breiter Front

KÖLN. Dass der Wirtschaftsstandort Deutschland vom technischen und naturwissenschaftlichen Know-how seiner Fachkräfte abhängt, ist eine Binsenweisheit. Und natürlich davon, dass es genügend solcher Fachkräfte gibt. Die Grundlage dafür legt die Schule mit Unterricht in den sogenannten MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Dummerweise sieht es gerade hier besonders düster aus – wie eine aktuelle Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) schonungslos deutlich macht.

Die Angst vor dem Fach Mathematik hat zugenommen – gerade unter Mädchen. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Mittel- bis langfristig wird in Deutschland der Bedarf an Fachkräften, die in sogenannten MINT-Berufen arbeiten, stark zunehmen – getrieben durch Mega-Trends wie die Digitalisierung, den Klimaschutz und die Demografie. Aktuell scheiden dem IW-Bericht zufolge jährlich über 64.800 MINT-Akademikerinnen und MINT-Akademiker aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarkt aus. In fünf Jahren wird der jährliche demografische Ersatzbedarf laut Prognose um 9.300 auf 74.100 zunehmen. Bei den MINT-Facharbeiterinnen und -Facharbeitern beträgt der aktuelle demografische Ersatzbedarf rund 259.800 – und wird in fünf Jahren um rund 12.200 auf 272.000 steigen.

„Der Nachwuchs von MINT-Expertinnen und -Experten ist daher für die Zukunftsfähigkeit in Deutschland von besonderer Bedeutung“, heißt es. In den nächsten Jahren sei aber mit einem Rückgang der MINT-Absolvierendenzahlen zu rechnen: Betrug die Zahl der MINT-Studierenden im ersten Hochschulsemester im Studienjahr 2016 noch rund 198.000 und sank bis zum Studienjahr 2019 leicht auf 192.500, so nahm die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger danach stark auf knapp 179.500 im Studienjahr 2023 ab.

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Betrachtet man die Studienanfängerzahlen in Ingenieurwissenschaften und Informatik, so sind diese von 143.400 im Studienjahr 2016 auf 128.400 im Studienjahr 2023 um 10,5 Prozent gesunken, wobei die Anzahl deutscher Studienanfängerinnen und -anfänger sogar von 104.300 auf 80.100 noch deutlicher um 23,2 Prozent eingebrochen ist. „Langfristig dürfte der Nachwuchs an MINT-Fachkräften in Deutschland noch weiter sinken, da durch die Demografie die nachrückenden Jahrgänge kleiner sind“, erklären die IW-Forscherinnen und Forscher.

Auch in puncto Qualifikation sind die Aussichten düster. „Für die kommenden Jahre ist besonders bedenklich, dass bei 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in den letzten Vergleichsarbeiten die Kompetenzen in Mathematik deutlich gesunken sind“, heißt es. Bei den Naturwissenschaften sieht es kaum besser aus. Zwischen PISA-2012 und PISA-2022 sind die naturwissenschaftlichen Kompetenzen der 15-Jährigen von 524 auf 492 Punkte und die mathematischen Kompetenzen von 514 auf 475 Punkte stark gesunken – „das schlechteste Ergebnis aller bisherigen PISA-Studien.“ Und: „Ein Rückgang der durchschnittlichen MINT-Kompetenzen lässt sich dabei sowohl an nicht gymnasialen Schularten als auch an den Gymnasien feststellen.“

Weiter berichteten die Wirtschaftsforscherinnen und -forscher: „Der Rückgang der durchschnittlichen Kompetenzen in Mathematik und den Naturwissenschaften geht damit einher, dass immer mehr Jugendliche nicht mindestens die PISA-Kompetenzstufe II erreichen. Ihnen fehlen damit grundlegende Kompetenzen und ein Übergang, z. B. in die berufliche Ausbildung, gestaltet sich für diese Personengruppe schwierig. Gleichzeitig ist der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler geringer geworden.“ In Mathematik nahm der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler von 17,5 Prozent auf 8,6 Prozent ab, der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sehr geringen Kompetenzen stieg dagegen von 17,7 Prozent auf 29,5 Prozent an.

„Im internationalen Vergleich verschlechterten sich die Ergebnisse in Deutschland besonders stark“, heißt es – was auch mit der Corona-Krise zu tun habe: „Im Vergleich zu anderen Ländern zeigt sich auch, dass Deutschland vergleichsweise schlechte Ausgangsbedingungen für den Distanzunterricht hatte und weniger familiäre Unterstützung während der Schulschließungen leisten konnte.“

„Negativ beeinflusst werden die Ergebnisse, wenn die Jugendlichen sehr viele Stunden am Tag außerhalb der Schule mit digitalen Medien (wie Videospiele oder soziale Netzwerke) verbringen“

Eine eigene empirische Untersuchung der 2022er PISA-Daten zeige, dass ein hoher beruflicher Status der Eltern, der eng mit deren Bildungsstand verknüpft ist, einen positiven Einfluss auf die PISA-Ergebnisse hat, ebenfalls die Anzahl der verfügbaren Bücher im Haushalt. „Wird im Haushalt die deutsche Sprache gesprochen, hat dies ebenso einen signifikant positiven Einfluss auf die PISA-Ergebnisse in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Negativ beeinflusst werden die Ergebnisse, wenn die Jugendlichen sehr viele Stunden am Tag außerhalb der Schule mit digitalen Medien (wie Videospiele oder soziale Netzwerke) verbringen“, schreiben die Autorinnen und Autoren.

„Der Besitz eines eigenen Computers hat zumindest in Mathematik einen positiven Einfluss auf die Kompetenzen. Ein Index über die Unterstützung der Schule während der Schulschließungen, der z. B. Angaben darüber enthält, ob Lehrmaterial versendet, Aufgaben kontrolliert oder digitaler Unterricht abgehalten wurde, hat ebenso einen signifikant positiven Einfluss auf die Lernergebnisse. Je mehr Probleme die Jugendlichen jedoch beim Selbstlernen hatten, wie z. B. Probleme beim Zugang zu einem digitalen Gerät oder zum Internet, Probleme, einen ruhigen Platz zum Arbeiten zu finden oder auch mangelnde Unterstützung bei den Schulaufgaben, desto niedriger fallen die Kompetenzen in Mathematik aus.“

Es werde ferner deutlich, dass auch die Einstellung der Jugendlichen zum Fach Mathematik eine Rolle spielt. „Schülerinnen und Schüler, die angeben, dass Mathematik zu ihren Lieblingsfächern gehört und die damit eine positive Einstellung zu diesem Fach aufweisen, weisen höhere Kompetenzen auf. Daneben ist es auch wichtig, dass es den Lehrkräften gelingt, eine ruhige Arbeitsatmosphäre im Klassenraum zu schaffen. Je höher der Indexwert für die Disziplin im Mathematikunterricht, je höher fallen auch die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler aus“, so heißt es in der Studie.

„Mit den Veränderungen der Kompetenzen hat sich auch die Einstellung der Schülerinnen und Schüler zum Fach Mathematik verändert. Nur 38 Prozent der Schülerinnen und Schüler geben in der aktuellen PISA-Studie an, dass Mathematik zu ihren Lieblingsfächern gehört. Die naturwissenschaftlichen Fächer sind etwas beliebter. Befragt, wie sie sich im Mathematik-Unterricht fühlen, geben die meisten Schülerinnen und Schüler in Deutschland ‚müde‘ (48,9 Prozent) oder ‚gelangweilt‘ (40,6 Prozent) an.“ Ebenfalls alarmierend: „Verglichen mit früheren PISA-Erhebungen hat die Ängstlichkeit der deutschen Schülerinnen und Schüler bezogen auf das Fach Mathematik zugenommen. Gleichzeitig hat die Freude und das Interesse an diesem Fach abgenommen und immer weniger sind der Meinung, dass Mathematik für den späteren Beruf von wichtiger Bedeutung ist.“ Im Vergleich zu den Jungen falle die Ängstlichkeit der Mädchen größer aus.

„Ein Grund dafür, dass die Kompetenzen der deutschen Schülerinnen und Schüler nicht höher ausfallen, kann der relativ enge Zusammenhang zwischen dem sozio-ökonomischen Status und dem Lernergebnissen in Deutschland sein. Durch die Zuwanderung nach Deutschland in den letzten Jahren ist dieser Zusammenhang im Vergleich zu vorherigen PISA-Studien wieder größer geworden. So ist der Anteil der Fünfzehnjährigen mit Zuwanderungshintergrund zwischen den Jahren 2012 und 2022 von 25,8 auf 38,7 Prozent angestiegen“, berichten die Wirtschaftsforscherinnen und -forscher.

Im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern ohne Zuwanderungshintergrund weisen die zugewanderten Jugendlichen deutlich niedrigere Kompetenzen in Mathematik auf. Bei den Schülerinnen und Schülern der ersten Generation fallen diese besonders gering aus. In dieser Gruppe fällt auch der Rückgang der Kompetenzen mit -62,6 Punkten im Vergleich zum Jahr 2012 besonders hoch aus. Damit einhergehend ist auch der Anteil der Schülerinnen und Schüler der ersten Generation, die nicht die Kompetenzstufe II erreicht und damit zur Risikogruppe zählt, besonders hoch. In Mathematik beträgt dieser Anteil 64 und in den Naturwissenschaft 61 Prozent. Damit gehören weit über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler aus der ersten Generation zur Risikogruppe. „Hier müssen dringend Anstrengungen unternommen werden, diese Gruppe besser in das Bildungssystem zu integrieren und insbesondere die Angebote zur Sprachförderung sollten daher ausgeweitet werden“, so fordern die Autorinnen und Autoren.

„Aufgrund der fehlenden Qualität der Ganztagsbetreuung gibt es keine ausreichenden Bildungsimpulse aus der Ganztagsinfrastruktur, um die Schulqualität und die Integration zu verbessern“

Gut aufgestellt sehen sie das Bildungssystem dafür nicht. „In den letzten zehn bis zwanzig Jahren sind die Herausforderungen im Bildungssystem bei den häuslichen Inputs gestiegen. So ist der Anteil der Kinder, die zu Hause nicht deutsch sprechen und zugleich einen bildungsfernen Hintergrund aufweisen, gestiegen. Der Anteil der Jugendlichen, der regelmäßig liest, ist rückläufig und der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit vielen Büchern im Elternhaus nimmt ab. Zwar gibt es Verbesserungen bei den öffentlichen Inputs wie bei den Betreuungsrelationen und den Ganztagsschulen, jedoch gibt es aufgrund der fehlenden Qualität der Ganztagsbetreuung keine ausreichenden Bildungsimpulse aus der Ganztagsinfrastruktur, um die Schulqualität und die Integration zu verbessern bzw. die steigenden Herausforderungen aus den Entwicklungen der häuslichen Inputs zu kompensieren. Ferner fehlen institutionelle Veränderungen wie mehr Schulautonomie, verbunden mit jährlichen und flächendeckenden Vergleichsarbeiten sowie gezielten und sozial differenzierten frei verfügbaren Zusatzfördermitteln für die Schulen, die einen Qualitäts- und Entdeckungswettbewerb zwischen den Schulen zur Schaffung gleicherer Bildungschancen entfachen könnten.“

Um die Herausforderung der Gegenwart und der Zukunft zu meistern und die Bildungschancen und MINT-Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu stärken, sei die Verfügbarkeit von Lehrkräften von hoher Bedeutung. „Häufig rezipiert wird in diesem Zusammenhang der Bildungsforscher John Hattie, der mit seinem Werk ‚Visible Learning‘ (2009) eine umfassende Synthese zahlreicher Metaanalysen über die Einflussfaktoren auf Schülerleistungen schaffte. Hattie zeigt in seiner Analyse, dass (gute) Lehrkräfte zu den wichtigsten Einflussfaktoren beim Lernen zählen.“ (Zu Hatties neuer Studie – hier ein Bericht.)

Die Wirtschaft stützt Forderungen nach mehr staatlichem Engagement im Bildungsbereich nahezu einhellig. Unternehmen wurden vom IW um ihre Einschätzung gebeten, wie bedeutsam bestimmte Faktoren sind, damit die deutsche Wirtschaft die Herausforderungen – Digitalisierung, Klimaschutz, Demografie – bewältigen und gestalten kann. Dabei konnten die Unternehmen eine Bewertung auf einer Skala von 0 (völlig unwichtig) bis 100 (unbedingt erforderlich) vornehmen.

Ergebnisse: Der Median der Antworten der Unternehmen in dieser Skala liegt mit 96 besonders hoch bei der Forderung nach mehr Investitionen des Staates in das Bildungssystem. Die anderen Bedingungen/Faktoren, wie mehr staatliche Förderung der Investitionen, eine höhere Veränderungsbereitschaft seitens der Unternehmensführungen und Belegschaften, mehr Innovationen seitens der Unternehmen sowie die politische Flankierung der unternehmerischen Maßnahmen (zum Beispiel durch Freihandelsabkommen und Außenwirtschaftsförderung) liegen mit einem Median bei etwa 75 deutlich dahinter. News4teachers

Hier lässt sich der vollständige MINT-Frühjahrsreport herunterladen.

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