BERG. Die Montessori-Pädagogik in Verbindung mit Inklusion so vielen Kindern wie möglich zugänglich machen und dazu interessierte Menschen fortbilden: Mit diesem Ziel hat Claus-Dieter Kaul bereits in den 1970er Jahren ein integratives Schul-Modellprojekt mit auf den Weg gebracht, das später zahlreichen Kitas und Schulen als Vorbild diente. Heute gilt der Lehrer, Sonderpädagoge und Buchautor als einer der führenden Experten der Montessori-Pädagogik in Deutschland und leitet gemeinsam mit der ehemaligen Schulleiterin und langjährigen Montessori-Pädagogin Carolina Abel die Akademie Biberkor in Berg bei Starnberg. Wir sprachen mit den beiden anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Weiterbildungseinrichtung darüber, was die Montessori-Pädagogik auch heute noch zu bieten hat und warum es auch für Erwachsene gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen – Stichwort „Künstliche Intelligenz“ – so wichtig ist, sich auf einen individuellen Lernweg zu begeben.
News4teachers: Wer sich bisher nicht mit Montessori-Pädagogik beschäftigt hat, ist vermutlich noch nicht auf die Akademie Biberkor gestoßen. Können Sie für diese Menschen kurz zusammenfassen, was dahintersteckt?
Carolin Abel: Die Akademie Biberkor bietet im Rahmen von Kursen Montessori-Pädagogik für alle interessierten Menschen an – Studentinnen, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Referendar:innen, Quereinsteiger:innen, aber auch Eltern oder andere Interessierte. Wir begrenzen das nicht auf Berufsgruppen. Alle Kursteilnehmer:innen können für diese Weiterbildung bei uns ein Diplom für bestimmte Jahrgangs- oder Altersstufen erwerben. Wir bieten darüber hinaus Einführungs- und Basiskurse und Coachings an, und demnächst wird es auch einen Leitungskurs geben.
“Digitale Medien sind nicht mehr wegzudenken. Die Kunst ist nun, den Kindern Fähigkeiten zu vermitteln, damit sie ihnen nicht ausgeliefert sind”
News4teachers: Auf Ihrer Website heißt es, dass Sie Bildung neu leben und denken und auch auf aktuelle Konzepte zeitgemäßer Lernbegleitung zurückgreifen. Was sind das für Konzepte?
Kaul: Eine sehr große Rolle spielt die Neurobiologie. Das Wissen, wie Lernen überhaupt stattfindet, ist eins zu eins kompatibel mit dem Montessori-Ansatz. Es geht um handlungsorientiertes und individualisiertes Lernen. Der Staat stellt im Moment hohe Fördergelder zur Verfügung, damit Lehrkräfte Formen kennenlernen, wie sie die Kinder individuell so begleiten können, dass sich deren Kompetenzen, vor allem in Mathematik und Sprache, wesentlich verbessern. Die Montessori-Pädagogik bietet dafür bereits ein breit gefächertes didaktisches Spektrum.
Abel: Ein weiterer Punkt ist: Zu meiner Zeit stand es nicht auf der Agenda, dass Lernen Spaß machen muss. Heute hat die Lern- und Hirnforschung bewiesen, dass am besten gelernt wird, wenn die Grundbedürfnisse erfüllt sind und es eine entspannte Lernumgebung gibt. Dazu gehören sichere Beziehungen und Bindungen. Und auch das passt sehr gut zur Montessori-Pädagogik, die sich an den Bedürfnissen der Kinder orientiert und als das Allerwichtigste eine sichere Beziehung zur Lehrkraft nennt. Dazu wiederum muss man verstehen, dass Lernen heißt, zu entdecken und zu erforschen. Und dazu gehören Fehler. In der Montessori-Pädagogik wird man für Fehler nicht bestraft, und das gibt der Beziehung zwischen Schüler:innen und Erwachsenen eine große Sicherheit.
Die Kinder in der Montessori Pädagogik dürfen sich offen auf ihren Lernweg begeben und die Erwachsenen um Hilfe bitten. Sie sehen, dass die Erwachsenen im Team arbeiten und keine Einzelkämpfer sind. Und auch unsere Kinder sind nicht zur Einzelarbeit verdonnert, sondern dürfen frei wählen, ob sie allein oder mit anderen zusammenarbeiten wollen. Diese freie Wahl stärkt den Charakter enorm und lässt auch die Kinder zu kooperations- und teamfähigen Menschen werden. Und das finde ich so bemerkenswert – Maria Montessori hat das vor hundert Jahren entwickelt, die Erkenntnisse der Hirnforschung bestätigen es und es ist so aktuell wie nie zuvor.
Kaul: Voraussetzung ist aber, dass die Lehrkräfte den Kindern vertrauen. Genau das müssen viele Lehrkräfte aber erst lernen. Dies erfordert eine hohe Kompetenz in Selbstreflexion, auf die wir in unseren Kursen höchsten Wert legen. Auch muss eine sehr intensive Elternarbeit betrieben werden. Die Eltern müssen mitgenommen werden, um ebenfalls dieses Vertrauen in ihr Kind zu haben. Ohne eine Erziehungspartnerschaft mit den Eltern kann gute Pädagogik gar nicht funktionieren.
News4teachers: Ist diese Lernkultur, die Sie beschreiben, trotz oder gerade wegen der rasanten Entwicklung Künstlicher Intelligenz erforderlich?
Kaul: Ich würde sagen, gerade wegen KI. Weil die Menschen, die diese Haltung von uns als Lehrkräfte bekommen, auch wissen, wie sie verantwortungsvoll mit KI umzugehen haben. Denn digitale Medien sind nicht mehr wegzudenken. Die Kunst ist nun, den Kindern Fähigkeiten zu vermitteln, damit sie ihnen nicht ausgeliefert sind, sondern verantwortungsvoll damit umzugehen.
News4teachers: Sie schreiben weiter, dass die Akademie Erwachsene befähigt, individuelle Lernprozesse zu begleiten. Wie muss ich mir das vorstellen?
Kaul: Letztlich erleben die Erwachsenen bei uns das, was die Kinder später bei ihnen erleben sollen. Das heißt, wir geben ihnen Vertrauen, wir sind offen und wertschätzend, wir geben ihnen Inspiration und lassen ihnen viel Zeit, sich selbst im Tun und im Lernen zu erleben.
Ganz wesentlich ist aber auch die Didaktik. Wie können Kinder zum Rechnen, Schreiben oder zur Grammatik hingeführt werden? Das wurde bisher nur gelehrt. Bei uns gibt es ein didaktisches Konzept, das die Erwachsenen über das Tun mit Material selbst erfahren können.
Abel: Hinzu kommt, dass sie die Brillen kennenlernen, durch die sie schauen. Wie sind wir erzogen und sozialisiert worden, so dass wir die Welt und die Kinder auf eine bestimmte Art wahrnehmen? Es geht darum, sich selbst auf die Schliche zu kommen und bewusst Beziehungen zu gestalten. Und nicht zuletzt respektieren wir bei den Erwachsenen, die zu uns kommen, ihre individuellen Lernwege und begleiten sie.
News4teachers: Können Sie den letzten Punkt an einem Beispiel konkretisieren?
Kaul: Also es ist zum Beispiel so, dass wir zwar Inspiration bezüglich des Montessori-Materials geben, aber wir geben nicht mehr wie früher vor, wie das Material zu handhaben ist. Was dadurch oft passiert, ist, dass Kursteilnehmerinnen ganz neue Zugangsmöglichkeiten finden. Wir öffnen das dann, indem wir sagen: Großartig, zeig das mal allen. Damit komme ich als Dozent aus dieser extremen Führungsrolle heraus und bin in dem Moment selber auch Lernender.
Abel: Wir respektieren, dass Erwachsene genauso wie Kinder ihre eigenen Lernschwerpunkte haben. Das bedeutet, es gibt am Kursende keine festgelegte Wissensabfrage. Wir gehen davon aus, dass jeder sein Bestes gibt, was ihm zurzeit möglich ist. Das heißt, wenn jemand aus welchen Gründen auch immer, gerade keine Präsentation erarbeiten kann, dann respektieren wir das und geben die Möglichkeit, wiederzukommen und das nachzuholen.
News4teachers: So funktioniert Schule aktuell aber ja nicht: Am Ende steht eine Wissensabfrage – sei es das Abitur oder eine Lernstandserhebung in der ersten Klasse. Und die meisten Lehrkräfte und Eltern befürworten dieses System. Wie überzeugen Sie, dass es anders geht?
Kaul: Im Grunde genommen, geht es darum, die eigenen Ängste abzubauen und Vertrauen darin zu gewinnen, dass es auch anders geht. Eine große Rolle spielt dabei die jahrzehntelange Erfahrung aller unserer Dozenten in der Pädagogik. Wir können immer wieder auf Berichte zurückgreifen, wie wir die Kinder erlebt haben oder wie die Kinder bei uns reagiert haben. Das ist für viele ganz wichtig – zu hören, wie die Praxisarbeit aussieht, zu sehen, dass nachhaltiges Lernen in der Schule gerade ohne Noten erst richtig möglich ist.
News4teachers: Neben den Kursen bietet die Akademie Biberkor seit vier Jahren auch das sogenannte „Neue Referendariat“ an. Können Sie kurz erklären, was das ist und was es besonders macht?
Kaul: Ein wesentlicher Punkt ist, dass wir nicht benoten. Unsere Referendar:innen arbeiten über Reflexion, Selbstreflexion und Feedback. Sie arbeiten Unterrichtseinheiten aus, die über Video gezeigt und miteinander besprochen werden. Es wird also nicht nur bewertet, sondern wohlwollend, aber auch kritisch reflektiert. Das neue Referendariat versucht, junge Lehrkräfte aufzubauen, damit sie ihren Lehrberuf gerne ausüben, und selbstsicher ihren Weg beschreiten.
Im Gegensatz zum staatlichen Referendariat trägt leider nicht das Land die Kosten, sondern die jeweiligen Schulen, an denen die Referendar:innen arbeiten. Unsere Referendar:innen kommen daher hauptsächlich von privaten Schulen, da viele staatliche Schulen nicht die finanziellen Mittel zur Verfügung haben. Das neue Referendariat ist staatlich noch nicht anerkannt.
News4teachers: Streben Sie denn an, dass es staatlich anerkannt wird?
Kaul: Natürlich haben wir das Ziel, dass es eine Form der staatlichen Anerkennung gibt. In erster Linie versuchen wir aber den Leuten mitzugeben, wie Schule in Zukunft aussehen soll – was im Moment aber oft noch wenig mit der Realität übereinstimmt.
News4teachers: Ist dann ihr Wunsch, dass die Lehrkräfte nach Abschluss des „Neuen Referendariats“ zu einer Regelschule wechseln, um dort den Grundstein für Veränderung zu legen?
Kaul: Da die Schulen das „Neue Referendariat“ finanzieren, haben sie natürlich ein großes Interesse daran, die Lehrkräfte zu behalten. Und deswegen bleiben die meisten auch an ihren Schulen. Wir haben aber immer wieder Lehrkräfte, die an eine Schule in öffentlicher Trägerschaft gehen. Und das ist gut so, weil wir überall gute Lehrkräfte brauchen.
Abel: Das passt auch zu dem, was wir nach unseren Basis- und Sekundarstufenkursen erleben, an denen viele Pädagoginnen teilnehmen, die an staatlichen Schulen arbeiten: Sie gewinnen durch den Kurs eine neue Perspektive auf ihre Situation, entdecken Freiräume und nutzen diese aus. Und dadurch wird ihre Tätigkeit wieder sinnbringender. Das heißt, im Grunde genommen dienen wir auch den öffentlichen Schulträgern mit den Basiskursen, weil die Lehrkräfte hier oft feststellen: Es ist gar nicht so viel verboten, was gut ist. Bei uns gewinnen sie einen Blick dafür. Durch solche mutigen “Freiraumkämpferinnen” hat sich über die Jahre in den Bildungsplänen ja auch schon einiges geändert.
News4teachers: Zum Abschluss die Frage: Wie fällt ihre Bilanz nach zehn Jahren Akademie Biberkor aus und wo soll es in den nächsten 10 Jahren hingehen?
Abel: Die Offenheit für das, was die Zukunft bringt, war und ist uns sehr wichtig. Wir hätten vor zehn Jahren niemals gedacht, dass wir mal ein Neues Referendariat anbieten. Sondern wir haben auf das reagiert, was die Zeit brachte. Wir sind flexibel geblieben, und so können wir gar nicht sagen, was in zehn Jahren sein wird. Was wir sagen können, ist: Wir sind offen, beweglich und lernfähig, und das bleiben wir auch. Beate Berrischen, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
Claus-Dieter Kaul, Akademieleitung
Claus-Dieter Kaul beschäftigte sich bereits während seines Lehramtsstudiums Ende der 1960er Jahre mit der Montessori-Pädagogik. Es folgte eine langjährige Unterrichtstätigkeit als Grundschullehrer, Sonderpädagoge und Schulleitungsmitglied in der Montessori Schule der Stiftung Aktion Sonnenschein, einem wissenschaftlich begleiteten, integrativen Schulversuch des Münchner Professors Theodor Hellbrügge. Durch das bundesweite Interesse an diesem pädagogischen Modell entstand eine große Nachfrage nach Weiterbildung in diesem Bereich. Innerhalb der Akademie für Entwicklungsrehabilitation des Kinderzentrums in München entwickelte Claus-Dieter Kaul in Folge ein Weiterbildungskonzept, das dazu beitrug, dass staatliche Kindergärten und Schulen ihr pädagogisches Programm im Sinne von Integration (heute Inklusion) neu aufsetzten.
Ab 1991 setzte Claus-Dieter Kaul diese Arbeit an seinem eigens gegründeten Institut für ganzheitliches Lernen (IfgL) in Tegernsee fort. 2014 ging das IfgL in der Akademie Biberkor auf, in der Kaul seither die pädagogische Leitung innehat. Claus-Dieter Kaul gehört dem Kuratorium der Universitätsschule Dresden an.
Carolina Abel, Akademieleitung
Carolina Abel ist ausgebildete Lehrerin für Sport und Deutsch und Montessori-Heilpädagogin. An der inklusiven Schule der Stiftung Aktion Sonnenschein in München leitete sie von 1986 bis 2001 Integrationsklassen in der Sekundarstufe und der Grundschule.
Seit 1987 kooperiert sie mit Claus-Dieter Kaul und arbeitet als Dozentin in Montessori Fortbildungskursen. Mit der Gründung der Montessori Schule Biberkor übernahm Carolina Abel 2002 die Aufgabe, die Grundschule in diesem großen Projekt aufzubauen und leitete diese, bis sie 2015 ins Leitungsteam der Akademie Biberkor wechselte.
Die Akademie Biberkor gehört zu den renommiertesten reformpädagogischen Aus- und Weiterbildungsstätten in Deutschland. Die Akademie wurde 2014 aus der Überzeugung heraus gegründet, dass Bildung mehr als nur Wissensvermittlung sein sollte – sie soll die individuellen Fähigkeiten und Potenziale der Lernenden fördern und zur persönlichen Entfaltung beitragen. Mit einem stetig wachsenden Kursangebot und einer konsequenten Ausrichtung auf die Bedürfnisse einer zukunftsfähigen Schule hat sich die Akademie Biberkor seither zu einem wichtigen Partner zukunftsorientierter Schulen und für pädagogische Fachkräfte entwickelt.
