BERLIN. Demokratie lebt vom Mitmachen. Aber sie ist durch Desinformation, Politikverdrossenheit und Radikalisierungsprozesse bedroht. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz macht nun Vorschläge zur besseren Demokratiebildung an Schulen – einschließlich eines „demokratischen Unterrichtsklimas“ in allen Fächern.
Bildungsforscherinnen und -forscher wollen die Demokratiebildung an Schulen durch eine Stärkung des Geschichts- und Politikunterrichts verbessern. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission, das Beratergremium der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK), hat dazu in Berlin eine Stellungnahme mit Empfehlungen vorgelegt.
Demokratiebildung und die Förderung gesellschaftlicher Integration seien zentrale Funktionen der Schule, heißt es. Felicitas Thiel, Co-Vorsitzende der SWK und Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der FU Berlin betont: „Schule hat einen besonderen Auftrag für Demokratiebildung, denn sie ist die einzige Institution, die alle Kinder und Jugendlichen erreicht. In den Fächern Politik und Geschichte können die Grundlagen gelegt werden, damit Kinder und Jugendliche sich fundiert mit politischen Prozessen und gesellschaftlichen Konflikten auseinandersetzen können.“ In Zeiten globaler Krisen und innergesellschaftlicher Konflikte, in denen sich häufig Gesinnungsgemeinschaften in sozialen Netzwerken gegeneinander abschotten, sei Schule in besonderer Weise herausgefordert.
In dem 76-seitigen Papier schlagen die Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Maßnahmen vor, wie Kindern und Jugendlichen demokratische Spielregeln und das Verständnis für demokratische Prozesse besser vermittelt werden könnten. Sie sprechen sich dafür aus, dass die Fächer Politik und Geschichte nach der Grundschule durchgängig angeboten werden. „Dazu kommt, teilweise bedingt durch fachfremden Unterricht, dass im Unterricht häufig nicht das notwendige Wissen sowie die Handlungs- und Urteilskompetenz vermittelt werden, die für eine Teilnahme an der Gesellschaft als mündige Bürger:innen nötig sind.“ Dabei soll der Blick besonders auf der Geschichte und Entstehung des Grundgesetzes sowie der Rolle der europäischen Aufklärung liegen.
Politische Bildung sei häufig nicht in der fünften und sechsten Klasse vorgesehen und habe oft mit ein bis zwei Stunden wöchentlich nur eine Randstellung in der Stundentafel, heißt es. „Dies steht in deutlichem Widerspruch zur Bedeutung von Politikunterricht gerade für diese Altersgruppe, die für eine Radikalisierung etwa durch Gaming und die unkritische Rezeption von Fake News anfällig ist.“
“Sehr selten werden motivationale Aspekte wie Selbstwirksamkeitsüberzeugung als fachliche Bildungsziele benannt”
Der Geschichts- und Politikunterricht sollte nach Ansicht der Kommission darüber hinaus inhaltlich weiterentwickelt werden – die Lehrpläne kommen in der SWK-Analyse schlecht weg. So werden die Vorgaben für den Politikunterricht dafür kritisiert, „dass politische Handlungskompetenzen der Schüler:innen zwar oftmals im Vorwort oder in der Präambel als Unterrichtsziel benannt werden, bei den detaillierteren und für Lehrkräfte (und Schulbuchverlage) handlungsleitenden jahrgangs- und themenspezifischen Vorgaben solche Handlungskompetenzen jedoch kaum Erwähnung. Operatoren, die auf Handlungsfähigkeit bezogen sind, finden sich kaum; diese beziehen sich vor allem auf Analyse- und Urteilsfähigkeit. Auch eine klare Ausrichtung auf Kompetenzorientierung wird teilweise vermieden. Einstellungen werden in den Curricula selten thematisiert. Sehr selten werden motivationale Aspekte wie Selbstwirksamkeitsüberzeugung als fachliche Bildungsziele benannt, obwohl diese für die Kompetenzentwicklung eine hohe Relevanz haben. Thematisch fällt auf, dass Kategorien der nachhaltigen Entwicklung, wie Klimaschutzpolitik oder das Mensch-Tier-Verhältnis, in Curricula der Sekundarstufen kaum vorkommen ebenso wie das Verhältnis von Religion zu Staat bzw. Gesellschaft.“
Bei den Curricula im Fach Geschichte kritisieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass trotz zunehmender Heterogenität in den Biographien der Schülerinnen und Schüler überwiegend eine „nationale Container-Geschichte“ gelehrt, also der Fokus vorwiegend auf Deutschland gelegt werde. „Transnationale Bezüge sowie wertebezogene Längsschnitte (zum Beispiel zur historischen Entwicklung der Menschenrechte)“ seien, wenn überhaupt, erst in jüngerer Zeit implementiert worden. „Die Thematisierung des Nationalsozialismus wird zwar als unabdingbar für den Umgang mit Antisemitismus im Geschichtsunterricht angesehen, dies erfolgt jedoch frühestens in Jahrgangsstufe neun. Ähnlich spät wird die Etablierung der Demokratie in Deutschland bearbeitet. Schließlich hat die Fokussierung auf eine abstrakte Strukturgeschichte zu einer Vernachlässigung der Perspektive geführt, dass Geschichte (auch) von Menschen gemacht wird und diese meist Entscheidungsspielräume haben.“
Die SWK hält eine umfassende Überarbeitung der Lehrpläne für erforderlich. So heißt es: „Für eine plurale Gesellschaft ist das Wissen über die freiheitlich demokratische Grundordnung von hoher Relevanz. Das beschränkt sich nicht auf das Auswendiglernen ihrer Elemente. Damit Schüler:innen ein Verständnis der Bedeutung der drei Säulen der freiheitlich demokratischen Grundordnung – Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – entwickeln, muss auch der Zusammenhang von Menschenbild und politischer Ordnung adressatengerecht thematisiert werden. Zudem ist es erforderlich, dass Themen wie der Umgang mit Pluralismus, Grundwerte- und Grundrechtskonflikten, Grenzen der Toleranz, Vielfalt von Partizipationsformen sowie Grenzen und Graubereiche demokratischer Protestformen, das Verhältnis von Religion und Politik sowie generell die Politics-Dimension (also prozessbezogene Dimension von Politik, inklusive Innenleben von Parlamenten, mit Fraktionen und Ausschussarbeit etc.), die bislang eher als Blackbox vermittelt werden, in den Curricula explizit adressiert bzw. stärker in den Fokus gerückt werden.“
Dies schließe politische Medienbildung ein. Denn: „Soziale Medien haben für die politische Information von Jugendlichen eine deutlich größere Bedeutung als andere Informationsquellen. Gleichzeitig werden Fehlinformationen und extremistische Inhalte besonders häufig über TikTok und Co. verbreitet.“ Auch sprechen sich die Fachleute dafür aus, verstärkt Planspiele zu nutzen. Diese „geben Einblicke in das Erfordernis und die Schwierigkeiten politischer Kompromissfindung in einer pluralistischen Demokratie“, heißt es. Empfohlen werden daneben Besuche in Parlamenten und Gespräche mit zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren.
Demokratiebildung sollte nach Ansicht der Experten darüber hinaus als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip in allen Schulfächern verankert werden. Sie plädieren etwa für Gruppen- und Projektarbeit in allen Fächern und dafür, kontroverse und sensible Themen im jeweiligen Fachgebiet offen zu diskutieren. Ein demokratisches Unterrichtsklima bedeute, dass Schülerinnen und Schüler in allen Fächern die Erfahrung machen sollten, dass ihre eigene Meinung gefragt sei.
“Jedes Unterrichtsfach muss sich am Leitbild der Erziehung zur Kooperationsbereitschaft, Kritikfähigkeit und Mündigkeit orientieren”
Im Wortlaut: „Demokratiebildung als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip findet Ausdruck in einem demokratischen Unterrichtsklima. Dies bedeutet, dass Werte wie Toleranz und Respekt Grundlage der Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler:innen sowie zwischen Schüler:innen in jedem Unterrichtsfach sein müssen. Jedes Unterrichtsfach muss sich am Leitbild der Erziehung zur Kooperationsbereitschaft, Kritikfähigkeit und Mündigkeit orientieren. Ein demokratisches Unterrichtsklima bedeutet damit auch, dass Schüler:innen in allen Fächern die Erfahrung machen sollen, dass ihre eigene Meinung gefragt ist und sie ihren Lehrkräften ggf. auch offen widersprechen können. Ein solches demokratisches bzw. für Diskussionen offenes Unterrichtsklima korreliert internationalen Studien zufolge nicht nur positiv mit demokratiekompatiblen Einstellungen und Fähigkeiten, sondern fördert auch den Wissensaufbau und die Selbstwirksamkeit.“
Die Kommission spricht sich zudem für mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten von Eltern und Schülern an der Schule aus. Weitere Vorschläge sind Fach- und Projekttage zur Demokratie auf verschiedenen Ebenen von der Kommune bis zum Land, ein Ausbau des internationalen Schul- und Schüleraustausches und sogenanntes Service Learning – also ehrenamtliche Hausaufgabenhilfe, Seniorenbesuche oder die Organisation von Nachbarschaftsinitiativen.
„Regeln für einen respektvollen und toleranten Umgang miteinander gehören ebenso in das Schulprogramm wie Möglichkeiten der Mitbestimmung für Schüler:innen und Eltern. Es ist Aufgabe der Schulleitung, dafür Sorge zu tragen. Bei allem Potenzial der Demokratiebildung ist jedoch auch klar, dass Bildung die gesellschaftlichen Probleme nicht lösen kann. Sie ist kein Ersatz für eine Politik, die die Anliegen und Ängste junger Menschen aufgreift“, erklärt Felicitas Thiel.
Die Kultusministerkonferenz werde die Empfehlungen prüfen und in ihre weitere Arbeit einfließen lassen, sagte die KMK-Präsidentin und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD). News4teachers / mit Material der dpa
Empfehlung 1: Ländergemeinsame Definition von Kompetenzzielen der Demokratiebildung in den Fächern Politik und Geschichte abstimmen und Maßnahmen zur Erreichung der Ziele implementieren.
Empfehlung 2: Durchgängiges Unterrichtsangebot in den Fächern Politik und Geschichte sowie Orientierung an einem Spiralcurriculum von der Grundschule bis zum Ende der Sekundarstufe I sicherstellen, das am Leitbild geschichtsbewusster, mündiger Bürger:innen ausgerichtet ist.
Empfehlung 3: Unterricht in den Fächern Geschichte und Politik bzw. in den entsprechenden Verbundfächern sowie im Sachunterricht gezielt weiterentwickeln.
Empfehlung 4: Demokratiebildung als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip in allen Schulfächern verankern.
Empfehlung 5: Demokratische Schulkultur durch eine gezielte Schulentwicklung und Partizipation stärken.
Empfehlung 6: Lehrkräftebildung stärken für einen fachlich und fachdidaktisch hochwertigen Geschichts- und Politikunterricht, für Demokratiebildung als fächerübergreifendes Prinzip sowie für eine demokratische Schulkultur.
Empfehlung 7: Strukturelle und materielle Voraussetzungen für die Verankerung der Demokratiebildung auf allen Ebenen schaffen.