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“Ein Lern- und Entwicklungsprozess, der nicht immer reibungslos funktioniert”: Kultusministerin Hamburg zur Inklusion

HANNOVER. Vor elf Jahren hat das Land Niedersachsen die inklusive Schule eingeführt – zunächst beginnend mit den Schuljahrgängen 1 und 5. Inzwischen werden rund 37.400 Schülerinnen und Schüler (Stand 2023) mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf inklusiv unterrichtet. Damit besuchen gut 65 Prozent aller förderbedürftigen Kinder und Jugendlichen eine öffentliche allgemeinbildende Schule. Das geht aus dem jetzt vorliegenden zweiten Bericht der Landesregierung „zur Überprüfung der Auswirkungen des Gesetzes zur Einführung der inklusiven Schule“ hervor. Wir sprachen darüber mit Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne).

“Ohne multiprofessionelle Teams keine Inklusion”: Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg. Foto: Grüne Landtagsfraktion Niedersachsen / Brauers.com

News4teachers: Der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat zuletzt deutlich das in Deutschland weiterhin bestehende Förderschulsystem kritisiert. Es sei mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar. In Niedersachsen laufen im Jahr 2028 zumindest die Förderschulen mit Förderschwerpunkt Lernen aus. Wann folgen die weiteren Förderschulen?

Julia Willie Hamburg: Mit dem Auslaufen der Förderschulen im Förderschwerpunkt Lernen bis zum Jahr 2028 wird in Niedersachsen ein wesentlicher Beitrag nicht nur zum Aufbau einer inklusiven Schullandschaft, sondern darüber hinaus auch zur Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft geleistet. Der Leitgedanke, dass Schülerinnen und Schüler auf verschiedenen Niveaus miteinander und voneinander lernen können und dabei niemandem ein Nachteil entsteht, wird durch diese Maßnahme mit aller Deutlichkeit umgesetzt. Das Auslaufen von weiteren Formen der Förderschulen ist aktuell nicht vorgesehen.

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News4teachers: Mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 hat Niedersachsen die schulische Inklusion eingeführt: Wie lautet Ihr Fazit nach mehr als einem Jahrzehnt der Entwicklung?

Aus der Praxis für die Praxis: SPLINT

Niedersachsen setzt auf SPLINT, um Schulen bei der Inklusion zu unterstützen. Unterricht gestalten, die Beobachtungen vom Schultag dokumentieren und dann auch noch individuelle Förderpläne erstellen? Für viele Lehrkräfte stellen die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft und die Inklusion wachsende Herausforderungen dar. Unterstützung für die Praxis kommt jetzt aus der Praxis: Die Förderplan-App SPLINT des Unternehmens Inklusion Digital, gegründet und geleitet vom Sonderpädagogen Friedo Scharf, hilft Lehrkräften bei der Diagnostik und bei der Förderung. Einfach, effizient und kollaborativ.

Niedersachsen ermöglicht es seinen Lehrerinnen und Lehrern, SPLINT gratis zu nutzen. Testen auch Sie als einzelne Lehrkraft oder als Team an Ihrer Schule oder Einrichtung SPLINT sechs Wochen lang kostenlos! Wichtig für Schulleitungen: SPLINT ist aus den Mitteln des Startchancen-Programms finanzierbar.

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Hamburg: Die Inklusion hat in den vergangenen Jahren Schule maßgeblich geprägt. Sie hat den Blick darauf geschärft, was Menschen mit ganz unterschiedlichen Ausgangssituationen, individuellen Fähigkeiten und Potenzialen benötigen, um gut lernen zu können und nicht nur in der Bildung, sondern auch der gesamten Gesellschaft teilhaben zu können.

Seit der Einführung der inklusiven Schule ist diese in den Grundschulen, den weiterführenden Schulen und den berufsbildenden Schulen sukzessive umgesetzt worden und heute ein zunehmend selbstverständlicher Teil des Schulalltags. Klar ist aber auch: der Aufbau der inklusiven Schule benötigt Zeit, erhebliche Ressourcen und bedarf zudem einer umsichtigen und nachhaltigen Planung, die in der Lage ist, auf Veränderungen und neue Herausforderungen zu reagieren.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass wesentliche Bausteine durch die entsprechenden rechtlichen Grundlagen und landesweite Konzepte sowie durch den Aufbau eines effektiven Beratungs- und Unterstützungssystems zur inklusiven Schule umgesetzt sind. Zudem sind die wichtigen Voraussetzungen für einen Personaleinsatz geschaffen worden, der multiprofessionelles Arbeiten in den Schulen ermöglicht. In unseren Schulen erleben die Schülerinnen und Schüler, dass sie durch das gemeinsame Lernen gestärkt werden und oft auch zu besseren Abschlüssen gelangen können.

Gleichwohl gibt es weiterhin vielfältige Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt und die Umsetzung der inklusiven Schule in Niedersachsen wird in den Schulen noch sehr unterschiedlich gelebt. Insofern ist die inklusive Schule auch über 10 Jahre nach ihrer Einführung noch immer ein Lern- und Entwicklungsprozess, der nicht immer reibungslos funktioniert.

“Zu den größten Erfolgen der inklusiven Schule gehört es, dass es gelungen ist, den Förderschwerpunkt Lernen in die Regelschulen zu überführen”

News4teachers: Was ist aus Ihrer Sicht der größte Erfolg?

Hamburg: Zu den größten Erfolgen der inklusiven Schule gehört es, dass es gelungen ist, den Förderschwerpunkt Lernen in die Regelschulen zu überführen. Dadurch ist es möglich, dass die Förderschulen Lernen bis zum Jahr 2028 auslaufen.

Hierzu beigetragen hat nicht zuletzt der landesweite Aufbau von 46 Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren Inklusive Schule (RZI), die Organisation der Mobilen Dienste in den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten Sehen, Hören, körperliche und motorische Unterstützung sowie emotionale und soziale Unterstützung. Allen Lehrkräften, Schulen, Schülerinnen und Schülern, Erziehungsberechtigten und vielen weiteren Beteiligten an der inklusiven Schule stehen umfangreiche Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung, damit die inklusive Schule gelingen kann.

News4teachers: In welchen Bereichen sehen Sie noch Nachholbedarf?

Hamburg: Die Verwirklichung der inklusiven Schule ist ein Paradigmenwechsel, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist. Dazu gehört beispielsweise, dass Schulgebäude Schritt für Schritt barrierefreier gestaltet werden müssen. Hier unterstützt das Land im Rahmen des Inklusionsfolgekostengesetzes. Trotzdem nehmen wir war, dass hier noch eine Menge an Schulen nachzuholen ist. Weiterhin werden vielfältige Anstrengungen unternommen, die inklusiven Schulen personell besser auszustatten. In der inklusiven Schule werden verstärkt auch pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung sowie emotionale und soziale Entwicklung benötigt. Auch wenn der Aufwuchs in Niedersachsen hier deutlich zugenommen hat, gibt es an den Schulen noch weiterhin Bedarf. Auch kann man sehen, dass die Schulen noch nicht gleich aufgestellt sind, im Bereich der inklusiven Beschulung, sondern es noch deutliche Unterschiede gibt.

News4teachers: Schon im ersten Bericht zur inklusiven Schule in Niedersachsen 2020 hieß es, der „Aufbau von multiprofessionellen Teams in den Schulen“ sei ein „wichtiger Schwerpunkt“. Diese Formulierung findet sich wortwörtlich auch im nun erschienenen zweiten Bericht. Inwiefern hat sich die Situation in der Zwischenzeit verändert und was erhoffen Sie sich von der Arbeitsgruppe, die derzeit Vorschläge erarbeitet, um eben dieses Ziel zu erreichen?

Hamburg: Inklusive Schulen leben vom erfolgreichen Zusammenwirken von Lehrkräften und nichtlehrendem Personal – von Verwaltungsmitarbeitenden über pädagogisch Mitarbeitende bis hin zur Schulsozialarbeit. Oder anders ausgedrückt: Ohne multiprofessionelle Teams keine Inklusion!

Die Beschäftigten im nichtlehrenden Bereich unterstützen z. B. bei der Umsetzung spezieller Maßnahmen zur Lernförderung und bei der psychosozialen Stabilisierung, um die Zukunftschancen aller Kinder und Jugendlichen schulformunabhängig zu sichern.

Vor diesem Hintergrund stellt für das Land Niedersachsen die multiprofessionelle Zusammenarbeit einen wichtigen Baustein dar, um die Inklusion weiter voranzutreiben. Daher ist es folgerichtig, dass der Aufbau weiterhin ein zentraler Schwerpunkt ist.

Seit mehreren Jahren erfolgt ein sukzessiver Ausbau von multiprofessionellen Teams, so dass an den öffentlichen Schulen in Niedersachsen neben Lehrkräften zunehmend mehr Fachkräfte aus verschiedenen Berufsrichtungen tätig sind. Für diesen Zweck hat Niedersachsen in den letzten Jahren Mittel in erheblichen Umfang zur Verfügung gestellt. Um das einmal mit konkreten Zahlen zu verdeutlichen: Alleine in den vergangenen Jahren seit 2020 ist die Gesamtzahl der pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um rund 5.400 Beschäftigte deutlich angestiegen – das ist ein Aufwuchs von fast 67 Prozent. Mit den zusätzlichen Beschäftigten ist auch ein Zuwachs der zur Verfügung stehenden Arbeitsstunden verbunden. Von 2020 bis 2024 ist in diesem Bereich ein Plus von insgesamt rund 80.000 Arbeitsstunden pro Woche zu verzeichnen.

Um die öffentlichen Bildungseinrichtungen bei der Ausgestaltung bzw. der Weiterentwicklung der multiprofessionellen Zusammenarbeit konzeptionell zu unterstützen, ist im Sommer 2022 durch das Niedersächsische Kultusministerium unter anderem ein Handlungsleitfaden veröffentlicht worden. Mithilfe dieser Publikation und des zusätzlich veröffentlichten praxisorientierten Materialienpools möchte das Land Niedersachsen allen öffentlichen Schulen insbesondere bei der konzeptionellen Ausgestaltung von multiprofessionellen Kooperationsstrukturen Anregungen, Empfehlungen und Impulse geben, die für die eigenen Schulentwicklungsprozesse gewinnbringend genutzt werden können.

Darüber hinaus hat das Niedersächsische Kultusministerium im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Gutachten bzw. Empfehlungen zum Lehrkräftemangel und zur Förderung der basalen Kompetenzen in Grundschulen durch die Ständige Wissenschaftliche Kommission einen Dialogprozess begonnen, vor dessen Hintergrund unter anderem die Arbeitsgruppe „Unterstützungspersonal“ entstanden ist. Diese soll – u. a. unter Einbindung von Schulverbänden – in einem agilen Arbeitsprozess tragfähige Handlungsstrategien entwickelt, um Lehrkräfte dauerhaft zu entlasten, Unterstützungspersonal im Rahmen multiprofessionell arbeitender Teams bedarfsorientiert unter Einbeziehung von Steuerungskriterien einzusetzen und den nichtlehrenden Bereich – basierend auf dem schon bestehenden Handlungsleitfaden – systematisch weiterzuentwickeln.

Auch an den berufsbildenden Schulen erfolgte ein Aufbau multiprofessioneller Teams. Im Rahmen des Haushaltsgesetzes des Landes Niedersachsen wurden ab dem Haushaltsjahr 2024 den öffentlichen berufsbildenden Schulen 100 zusätzliche unbefristete Beschäftigungsmöglichkeiten für nicht lehrendes Personal zur Verfügung gestellt. Ein entsprechender Erlass ermöglicht es, das nicht lehrende Personal flexibel und nach den spezifischen Bedürfnissen der jeweiligen berufsbildenden Schule einzusetzen.

Trotz dieser Fortschritte bleibt es entscheidend, die multiprofessionellen Teams weiter auszubauen und zu stärken.

“Inklusive Schule und gute Bildung gelingen nur mit ausreichend gut qualifizierten Lehrkräften”

News4teachers: Beide Berichte beschreiben die Versorgung der Schulen mit sonderpädagogischem Personal als „besonders herausfordernd“. Hinzu kommt der allgemeine Lehrkräftemangel. Wie beeinflusst der Personalmangel die Entwicklung der schulischen Inklusion?

Hamburg: Inklusive Schule und gute Bildung gelingen nur mit ausreichend gut qualifizierten Lehrkräften. Vor diesem Hintergrund ist die Gewinnung von mehr Lehrkräften ein zentraler Baustein auf dem Weg der 1.000 Schritte für eine verlässliche Unterrichtsversorgung in Niedersachsen. Mit dem bereits genannten Dialogprozess haben wir uns auf den Weg gemacht, um Maßnahmen in diesem Bereich zu identifizieren und umzusetzen.

Mit dem Haushaltsentwurf 2025 wird das Land – sofern der Haushaltsgesetzgeber diesem Vorschlag folgt – in diesem und im nächsten Jahr 2.460 weitere Stellen bereitstellen, um mehr Lehrkräften, die den Vorbereitungsdienst in Niedersachsen oder anderen Bundesländern absolvieren werden, ein Einstellungsangebot machen zu können.

Um eine gerechtere Besoldung zu schaffen und zugleich den gestiegenen Anforderungen an Lehrkräften Rechnung zu tragen und die Attraktivität des Berufes zu erhöhen, wurde zudem zum 1. August dieses Jahres bereits ein wichtiger Meilenstein der aktuellen Bildungspolitik in Niedersachsen umgesetzt. Alle Lehrkräfte mit einem der Lehrämter für die Grund-, Haupt- und Realschulen werden nun im Einstiegsamt nach A 13 besoldet. Auch die Besoldung der Lehrerinnen und Lehrer für Fachpraxis in den Berufsbildenden Schulen wurde auf A 10 angehoben. Das ist ein entscheidender Schritt, um dem Fachkräftebedarf zu begegnen.

Darüber hinaus ist es wichtig, das vorhandene Personal gut aufzustellen, zu beraten und zu unterstützen. Daran haben die bereits genannten Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten und insbesondere die RZI einen erheblichen Anteil, aber auch ein umfängliches passgenaues Fortbildungsangebot, für das seit der Einführung der inklusiven Schule erhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden.

News4teachers: Für das vorhandene Lehrpersonal bedeutet die Inklusion durch Diagnostik, Förderplanung und individuelle Förderung zusätzlichen Arbeitsaufwand. Inwieweit können mittlerweile digitale Tools Unterstützung bieten? Welche konkreten Erfahrungen hat Niedersachsen in diesem Bereich bereits gesammelt?

Hamburg: Um Lehrkräfte bei der Bestimmung der Lernausgangslage, der Förderplanung und anschließender Förderung der Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, kommt in Niedersachsen der Förderplaner SPLINT zum Einsatz. Das digitale Tool hilft Lehrkräften aller Schulformen beispielsweise bei der Erstellung von Förderplänen unterschiedlicher Bedarfe an sonderpädagogischer Unterstützung oder aber auch bei der Dokumentation der individuellen Lernentwicklung. SPLINT kann von allen Schulen genutzt werden. Bislang haben wir in Niedersachsen damit gute Erfahrungen gemacht.

News4teachers: Der nächste Bericht zur inklusiven Schule in Niedersachsen steht in vier Jahren an. Was wollen Sie bis dahin auf jeden Fall erreicht haben?

Hamburg: Unser Ziel ist es, die inklusive Schule weiter zu verbessern. Im Jahr 2027 sollen 1.700 Förderschullehrkräfte fest zum Kollegium von allgemein bildenden Schulen außer Förderschulen gehören. Dies ist auch im neuen Aktionsplan Inklusion des Landes Niedersachsen so festgeschrieben. Weiterhin haben die RZI die Aufgabe, in ihrem jeweiligen Landkreis bzw. ihrer kreisfreien Stadt ein Regionales Inklusionskonzept zusammen mit den Schulen und allen auch außerschulisch Beteiligten zu entwickeln, die zur Förderung von Kindern und Jugendlichen beitragen. Auf diese Weise kann eine umfängliche Förderung organisiert und koordiniert werden.

Ein wichtiger Schwerpunkt des Niedersächsischen Kultusministeriums ist es, Schulen und Lehrkräfte dabei zu unterstützen, Schülerinnen und Schüler mit herausfordernden Verhaltensweisen besser zu verstehen und auf angemessene Weise in den Unterricht einbinden zu können. In diesem Zuge haben wir das Konzept ES zum Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen auf den Weg gebracht, welches sich seit März 2022 in einem erfolgreichen Umsetzungsprozess befindet.

Zudem sind für die berufsbildenden Schulen Maßnahmen in Planung bzw. bereits in Erarbeitung wie der Ausbau inklusiver Netzwerke in allen Regionen und die Ermöglichung einer inklusiven Beruflichen Orientierung. Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview

Förderpläne, praxistauglich – mit der SPLINT App: Wie der Sonderpädagoge Friedo Scharf darauf gekommen ist

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