MÜNCHEN. Welchen Sinn macht es, Schülerinnen und Schüler unvermittelt im Unterricht zu testen? Um die sogenannten “Exen” – unangekündigte kleine Prüfungen also – tobt in Bayern ein hitziger Streit, der an die Grundlagen der Pädagogik rührt. Zuletzt hatte der Bildungsforscher Prof. Klaus Zierer die “Rechenschaftsablagen” und “Stegreifaufgaben” auf News4teachers im Grundsatz verteidigt. Hier kommt nun eine Gegenrede dazu. Der Verfasser Roland Grüttner ist ehemaliger Rektor einer Grund- und Mittelschule und einer Montessorischule in Bayern; er betreibt den Blog paedagokick.de.
Streit um die Ex – ein notwendiger Widerspruch
Prof. Klaus Zierer hat auf News4teachers eine Stellungnahme zu der Petition einer Schülerin veröffentlicht (hier geht es hin), die aus verschiedenen Gründen nicht unwidersprochen so stehen bleiben darf. Ich beschränke mich auf einige Aspekte.
1 Feedback-Kultur
Richtig verstanden zeigen mündliche Rechenschaftsablagen („Abfragen“) und unangekündigte Stegreifaufgaben („Exen“) auf, was der Schüler kann (Feed-Back), wie er lernt (Feed-Up) und was er noch nicht kann (Feed-Forward). Sie geben damit dem Schüler und dem Lehrer wichtige Informationen für die Weiterarbeit. Damit decken sich diese Formate mit mehreren wirkmächtigen Faktoren von Unterrichtsqualität, wie sie in der Hattie-Studie, dem größten Fundus der empirischen Bildungsforschung, beschrieben werden: nämlich Rückmeldungen vom Lehrer zu den Schülern, Übungstests und formative Evaluationen.
1.1 Exen „richtig verstanden“
Daran sind mehrere Dinge bemerkenswert: Erstens das vorausgeschickte „richtig verstanden“. Hier wird also die Idealform einer Ex beschrieben, mit der sich natürlich trefflich argumentieren lässt. Aber wie oft erleben die Schüler:innen die Realform, nämlich die Ex als Machtinstrument, als eine scheinbar notwendige Maßnahme, um die Schüler:innen zum Lernen zu zwingen, also sie zu etwas zu motivieren, was der Unterricht, die Lehrkunst oder der „Stoff“ nicht hergibt?
Wenn Prof. Zierer mit gut durchgeführten Studien argumentiert: Hier wäre ein Forschungsfrage („Wie lernwirksam sind Stegreifaufgaben?“), dem einmal abgeholfen werden sollte.
1.2 Verweis auf die Hattie-Studie
Der Verweis auf die Hattie-Studie ist im Prinzip gerechtfertigt; man muss aber dabei zwei sehr entscheidende Einschränkungen machen:
1.2.1 Fragliche Individualisierung
Feed-Back, Feed-Up und Feed-Forward erleben die Schüler:innen nach Erhalt der benoteten Stegreifaufgabe wie genau? Das Ideal der formativen Evaluation sieht eine individuelle Behandlung genau dieser drei Rückmeldungen vor. Wie oft erleben die Schüler:innen das am Gymnasium? Kann das ein gleichschrittiger Unterricht überhaupt leisten? Das ist kein Lehrer-Bashing, denn wenn ich mehrere Klassen mit Schülerzahlen zwischen 20 und 33 zu unterrichten habe, kann ich das nicht schaffen, auch wenn ich es noch so sehr wollte.
1.3 Fragliche Notenbewehrung
Die Stegreifaufgaben sind notenbewehrt, damit verlieren sie ihren unschuldigen Charakter als formatives Feedback und machen nicht nur Fehler und Richtiges deutlich, sondern auch emotionalen Druck. Wer Hattie gelesen und übersetzt hat, muss den Abschnitt über anxiety kennen und in seine Argumentation einbauen:
Für unsere Argumentation: Evaluation anxiety im speziellen bekommt in der Hattie-Studie eine negative Effektstärke von d = – 0.21, das heißt, sie ist für den Lernerfolg absolut kontraproduktiv! Prof. Zierer, der auch die zweite Hattie-Studie übersetzt hat, weiß das natürlich, zeichnet aber dennoch ein sehr unvollständiges Bild vom evaluativen Wert der Stegreifaufgaben.
2 Persönlichkeitserziehung
Hier beschränke ich mich auf folgende Anmerkungen:
2.1 Kontinuierliches Lernen vs. teaching to the test
Ich finde es interessant, dass Prof. Zierer genau diesen Gegensatz formuliert und konstruiert. Kann er das wirklich so meinen: Kontinuierliches Lernen kann nur motiviert werden mit der stets drohenden Möglichkeit, unvorbereitet zu sein und Wissen nicht wiedergeben zu können (und entsprechend sanktioniert zu werden)?
Der Gegensatz ist bei ihm dann das teaching to the test, also das Lernen nur für Tests als „Saisonarbeit“ zwischen „Wellnessperioden“. Also will Prof. Zierer dieses rein testbezogene Lernen dadurch bekämpfen, das die Schüler:innen ständig mit der Möglichkeit rechnen müssen, einen Test zu schreiben. Ist das nicht dasselbe? In einem Fall lernen die Schüler:innen nur, weil sie wissen, dass eine Ex ansteht; im anderen Fall nur, weil sie mit der Möglichkeit rechnen, dass abgefragt wird. In meinen Augen führt beides zu dem von ihm kritisierten „Bulimie-Lernen“.
2.2 Das Motivationsproblem
Meine Kritik ist an dieser Stelle, dass Prof. Zierer das Motivations-Problem anscheinend nicht anders lösen kann (will?), als durch Verweis auf eine Drohung. Hier fehlt mir der Hinweis auf die Möglichkeit, dass wir Lehrer:innen jahrelang gut darin ausgebildet werden, unseren Unterricht wenigstens einigermaßen interessant zu gestalten und den Schüler:innen die Relevanz der Inhalte nahezubringen. Das funktioniert nicht? Ich verweise auf den deutschen Schulpreis und die inzwischen sehr vielen Schulen, denen es offensichtlich gelingt, die Schüler:innen auch ohne diesen dem erfolgreichen und nachhaltigen Lernen fremden Druck zu guten Abschlüssen zu bringen.
3 Leistungserziehung
In diesem Abschnitt beginnt Prof. Zierer damit einen fatalen Zusammenhang aufzubauen: Leistung braucht Stegreifaufgaben. Zwar stellt er dies in den allgemeinen Kontext von „Rechenschaftsablagen“, aber wir wollen uns mal auf den einen Punkt konzentrieren, denn darauf zielt ja der ganze Beitrag.
Eustress und Distress werden referiert, aber letzterer nicht ernstgenommen. Ich empfehle eine Lektüre von https://derkinderarztblog.com/, um zu erkennen, was Distress mit Kindern macht. Hier ein Zitat daraus:
“Schätzen Sie mal, wie häufig wir jede Woche wegen Problemen im Zusammenhang mit der Schulleistung kontaktiert werden! 5-mal? 10-mal? mehr als 20-mal? Genau! Mehr als 20-mal klären wir jede Woche vermeintliche Störungen im Zusammenhang mit Schulleistungen ab. Es sind auch viele Kinder, die sich mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Herzrasen, Schwindel oder noch intensiveren Problemen vorstellen… Es sind selten die Eltern (was viele vorschnell glauben), die bewusst diesen Druck aufbauen. Es kommt aus der Schule. Nicht persönlich auf ein einziges Kind. Nicht persönlich durch den Lehrer. Es ist das System.”
Und das ist nur die Oberfläche. Gegenüber diesen für die Kinder störenden, verstörenden oder gar zerstörenden Wirkungen schulischer Leistungsforderungen erscheinen mir Prof. Zierers Ausführungen leichtfertig. Dies umso mehr nach Lektüre seines vierten Punktes.
4 Bildung
“Letzten Endes geht es also darum, in der Schule eine humane Lern- und Prüfungsatmosphäre zu schaffen, so dass (unvermeidliche) Prüfungssituationen gut bewältigt werden können. Damit rückt die Lehrerprofessionalität ins Zentrum der Debatte, die in den letzten Jahren nicht geführt worden ist, stattdessen wurden Struktur- und Digitalisierungsdebatten über alles gestellt”, so schreibt Zierer.
4.1 Lehrerprofessionalisierung statt Struktur- und Digitalisierungsdebatten!
Ich weiß nicht, welche Debatten Prof. Zierer in den letzten Jahren wahrgenommen hat. Dass die Lehrerprofessionalisierung kein Thema gewesen wäre, ist mir nicht aufgefallen. Herr Zierer hat doch selbst dazu beigetragen, indem er die erste Hattie-Studie übersetzt und dem deutschen Sprachraum zugänglich gemacht hat. „Es kommt auf den Lehrer an“ war 2009 ff das Stichwort dieser Debatte, und viele Kolleg:innen haben sich durch Erkenntnisse und Hinweise der Hattie-Studie professionalisieren lassen.
4.1.1 Digitalisierungsdebatte
Aber das nur nebenbei, denn der nun formulierte Gegensatz geht in meinen Augen völlig an der Wirklichkeit vorbei: Die Digitalisierung geht nicht mehr weg, damit muss sich jede:r auseinandersetzen, der oder die mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Es wäre vielen Lehrer:innen lieber, sie müssten sich nicht ständig mit den Fragen nach Handy, Tablet oder Notebook, Lernmanagementsystemen, Learning Apps und Datenschutz auseinandersetzen. Aber dahinter können wir nicht mehr zurück. Diese Debatte muss geführt werden.
4.1.2 Strukturdebatte
Die Strukturdebatten, von denen ich Kenntnis habe, werden nicht aus politischen oder ideologischen Motiven heraus geführt, sondern weil zwei wesentliche Bildungsoffensiven an strukturelle Grenzen stoßen: Die Inklusion und die Entwicklungen an den Graswurzeln des Lernens.
Den Leser:innen ist vielleicht bekannt, dass die UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich Schule darauf zielt, die Sonderstruktur Förderschule nach und nach abzulösen durch eine Inklusion möglichst aller Kinder und Jugendlichen in die „normalen“ Schulen. Der UN-Fachausschuss hat darauf schon mehrmals mit unschöner Regelmäßigkeit hinweisen müssen, aber unsere bestehenden Strukturen erweisen sich als durchaus hartnäckig und widerspenstig in Bezug auf dieses Menschenrecht.
Und an den Graswurzeln des Lernens gibt es viele Entwicklungen, die sich zum Teil innerhalb der bestehenden Strukturen verwirklichen lassen, zum Teil aber auch immer wieder an strukturelle Grenzen stoßen. Mir fallen spontan das „Churer Modell“ für mehr individualisierten Unterricht ein, das „Lernen/Abitur im eigenen Takt“, die „notenfreie Schule“ und anderes. Hier in Bayern ist das Übertrittsreglement für die 4. Klasse ein Strukturelement, das freieren Lernformen durch eine hohe Anzahl an Schulaufgaben enge Grenzen setzt.
Im Folgenden greift Herr Prof. Zierer zu einer Ausdrucksweise, die mich nur den Kopf schütteln lässt.
4.2 „Entlastungsideologie und Kuscheleckenpädagogik“
“Anstatt im Sinn einer weiteren Entlastungsideologie und Kuscheleckenpädagogik Schüler weiter in Watte zu packen, ihnen das Leben leichter zu machen, sie vor allen Herausforderungen, Problemen und Schwierigkeiten zu bewahren …”
Man muss sich einmal verdeutlichen, wen Prof. Zierer mit diesen Worten in die Ecke der „Entlastungsideologie und Kuscheleckenpädagogik“ steckt:
Nicht nur die Initiatorin der Petition zur Abschaffung der Exen, sondern auch die – per Stand heute –22 500 Unterzeichnenden; den Bayerische Landesschülerrat, der schon 2023 dasselbe forderte; das Forum Bildungspolitik mit seinen über 40 Mitgliedsverbänden vom Paritätischen Wohlfahrtsverband über die Aktion Humane Schule, die GEW, den BLLV, bis hin zum Bayerischen Elternverband u.a.; und nicht zuletzt etliche Kolleg:innen aus den Wissenschaften: Prof. Dr. Eckhard Klieme, Prof. Dr. Jörg Ramsegger, Prof. (em.) Dr. Klaus Klemm, Prof. Dr. Krassimir Stojanov, Prof. Dr. Ludwig Haag, Prof. Dr. Markus Schaer, Prof. Dr. Sandra Fink, Prof. Dr. Uta Hauck-Thum.
4.2.1 Leistungskultur
Laut Prof. Zierer umfassen „Elemente einer Leistungskultur“ auch „Elemente der Herausforderung und damit auch Elemente des Scheiterns und Gelingens“.
Über den Begriff „Leistung“ kann man schon reichlich diskutieren, noch mehr und heftiger über den sehr, sehr fragwürdigen Zusammenhang von Leistung und Noten, aber diesen Streit will ich an dieser Stelle außen vor lassen, sondern stattdessen fragen:
Muss es wirklich sein, dass wir die „Leistungskultur“ unserer Gesellschaft (die den Fleißigen belohnt – wirklich?) in der Schule so vorbereiten, dass wir sie dort auch bereits üben? Und zwar mit allen Folgen – also mit Druck, mit Siegern und Verlierern? Wer diese „Leistungskultur“ befürwortet, sagt auch, dass es notwendig solche geben wird, die nicht genug leisten (wollen? können?), also Opfer. Selbst schuld, dann muss man sich halt mehr anstrengen! Ist die Schule nicht als Schonraum gedacht, als Raum der Bewährung, in dem man sanktionsfrei Fehler machen kann?
5 Schlusswort
Das Schlusswort überlasse ich einem geschätzten Pädagogen:
“Den Kindern gegenüber verpflichte ich mich für eine wertschätzende, angstfreie und bildungswirksame Atmosphäre und Beziehung zu sorgen und für die leibliche, geistige und seelische Unversehrtheit der mir anvertrauten Kinder einzustehen.”
Ach, sieh an: So sprach Prof. Zierer in seinem „Sokratischen Eid“ (Hintergrund: Einen solchen hatte der Bildungsforscher für Lehrkräfte in Buchform entwickelt; News4teachers berichtete). News4teachers
