
Die konzertierte Aktion ist beispiellos: Mit Unverständnis haben nach eigenem Bekunden alle großen Bildungsverbände den Haushaltsentwurf 2025/26 der grün-schwarzen Landesregierung von Baden-Württemberg zur Kenntnis genommen – und in einer gemeinsamen Erkärung gegen den ihrer Meinung nacvh unzureichenden Aufwuchs von Lehrerstellen protestiert.
Mit Blick auf das Zahlenwerk heißt es in der gemeinsamen Erklärung von GEW, Philologenverband, Grundschulverband, Landeselternbeirat, Landesschülerbeirat und Berufsschullehrerverband (BLV). „Darin wird die aktuelle Schülerprognose für die Schuljahre 2025/2026 und 2026/2027 nicht berücksichtigt, obwohl davon ausgegangen wird, dass in diesen beiden Schuljahren zusammen circa 28.000 Schüler*innen mehr die allgemeinbildenden Schulen besuchen werden. Um Unterrichtsausfälle zu vermeiden, werden deshalb mindestens 1.500 zusätzliche Vollzeit-Deputate für Lehrkräfte benötigt. Eine entsprechende Aufstockung im Entwurf für den Staatshaushaltsplan 2025/2026 findet jedoch nicht statt!“
„Ich weiß nicht, woher diese Zahl kommen soll“, sagt hingegen Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) zu den geforderten 1.500 Stellen. Die Zahl sei nicht nachvollziehbar. Rechnerisch liege der demografische Mehrbedarf für die Jahre 2025 und 2026 bei 990 Deputaten, so der Ministerpräsident. Die Zahl von 1.500 beinhalte neben der Entwicklung der Schülerzahlen auch eine Erhöhung des Versorgungsgrads auf 110 Prozent. Auch das Kultusministerium teilte mit, dass der Aufwuchs von 28.000 zusätzlichen Schülern stimme, aber die Zahl von fehlenden 1.500 Deputaten zu hoch gegriffen sei. Der Netto-Mehrbedarf für G9 liege bis 2032 bei 860 Deputaten.
„Was nützt uns Sparen, wenn es uns nicht gelingt, unsere Kinder und Jugendlichen fit zu machen für die Herausforderung des 21. Jahrhunderts?“
Anders die Position der Verbände. GEW-Landeschefin Monika Stein betont: „Kitas, Grundschulen, G9, Ganztag, Inklusion, berufliche Orientierung, Demokratiebildung, Vertretungsreserve et cetera: Die Liste der notwendigen Projekte ist lang. Wenn die Landesregierung weiter an der Schuldenbremse festhält, wird sie nur einen kleinen Teil anpacken können. Selbst wenn nur die dringend notwendigen Investitionen in die frühe Bildung, in die Sonderpädagogik und den Ganztagsausbau in Angriff genommen werden, reicht das Geld im Landeshaushalt nicht. Was nützt uns Sparen, wenn es uns nicht gelingt, unsere Kinder und Jugendlichen fit zu machen für die Herausforderung des 21. Jahrhunderts?“
Mit dem geplanten Stellenaufwuchs seien zwar gute Ansätze im Haushalt erkennbar und einige notwendige Posten abgedeckt. „Allerdings sollte den Landtag aufrütteln, dass Baden-Württemberg seit Jahren auf Platz 16 der Bundesländer die rote Laterne hält, was die Lehrkräfte-Schüler*innen-Relation in Grundschulen betrifft. Wir brauchen als erstes 1.500 zusätzliche Stellen für Lehrer*innen in den Klassen 1 bis 4. Außerdem kennen wir keinen anderen Arbeitgeber, der seine ausgebildeten Fachkräfte nach der Ausbildung erst einmal entlässt, um sechs Wochen lang Geld zu sparen. Mit seinem Umgang mit den gut 4.000 Referendar*innen zeigt das Land der Generation Z, dass es nicht besonders sexy ist, im Landesdienst zu arbeiten.“
„Nur mit 110 bis 115 Prozent Deputatsabdeckung in der Fläche ist eine ausreichende Personalversorgung gegeben“
„Die angeblich positive Entwicklung bei den Lehrkräftezahlen, die zum Schuljahresbeginn vom Kultusministerium präsentierte wurden, erweisen sich bereits nach zwei Monaten als Augenwischerei“, findet der Landeselternbeirat. „Echte Unterrichtsqualität kommt nicht von immer neuen Initiativen, sondern einzig und allein durch ausreichende personelle Versorgung“, betont der Vorsitzende Sebastian Kölsch. Für die Eltern im Land sei dabei vor allem wichtig, dass eine vermeintliche 100-Prozent-Abdeckung de facto eine Unterversorgung darstelle.
Klassenfahrten, Krankheitsausfälle, Fortbildungen und die steigende Belastung durch administrative Aufgaben ziehe in der Praxis täglich Personal aus den Klassenzimmern und damit von den Schülerinnen und Schülern ab. „Nur mit 110 bis 115 Prozent Deputatsabdeckung in der Fläche ist eine ausreichende Personalversorgung gegeben. Jedes Unternehmen im Land muss so rechnen, dies sollte auch in der Haushaltspolitik für die Personalversorgung an Schulen die Richtschnur sein“, so Kölsch.
Aus Sicht des Landesschülerbeirates ist eine ausreichende Versorgung mit qualifizierten Lehrkräften unabdingbar, um einen hochwertigen und zuverlässigen Unterricht zu gewährleisten. „Nachdem wir dieses Schuljahr endlich deutliche Fortschritte bei der Unterrichtsversorgung gemacht haben, würden diese bei dem aktuellen Haushaltsentwurf nicht nur zunichte gemacht, sondern auch um Jahre zurückgeworfen werden“, meint der Vorsitzende Joshua Meisel.
In die gleiche Kerbe schlägt der Philologenverband. Dort heißt es: „Mit Blick auf 2032 entsteht ein Mehrbedarf von annähernd 2.000 Lehrkräften. Dieser Mehrbedarf kann nicht ad hoc abgedeckt werden, sondern es müssen ab sofort vorausschauend und über mehrere Jahre hinweg Lehrkräfte eingestellt werden. Die Haushaltsansätze müssen dieser Situation angepasst werden. Zumindest die besten Bewerberinnen und Bewerber jedes Jahrgangs müssen mit einem Angebot an Baden-Württemberg gebunden werden. Diese Lehrkräfte könnten an den Gymnasien aktuell intern eingesetzt werden, um beim Aufholen der Coronalücken tätig zu sein, da die Jahrgänge ab der jetzigen Klasse 6 voraussichtlich nicht in den Genuss von G9 kommen werden. Der Beruf der Lehrkraft muss durch einen attraktiven Arbeitsplatz und gute Arbeitsbedingungen erstrebenswert gemacht werden – dies kann am besten durch zufriedene Lehrkräfte direkt vor Ort geschehen.”
„Sprachförderung, Juniorklassen und Ganztag setzen die Grundschulen in den nächsten Jahren unter erheblichen Druck“
Auch der VBE zeigt sich empört über die Einstellungspolitik der Landesregierung. „Das Statistische Landesamt prognostiziert für die nächsten zwei Schuljahre einen Aufwuchs von rund 22.000 zusätzlichen Grundschulkindern. Für diesen Zuwachs finden wir im Haushaltsplan genau null zusätzliche Lehrerstellen. Dabei müssten die Grundschulen eigentlich etwa 1.000 weitere Vollzeitdeputate erhalten, um die zusätzlichen Klassen bilden zu können“, sagt Landes- und Bundesvorsitzender Gerhard Brand.
Er fügt hinzu: „Sprachförderung, Juniorklassen und Ganztag setzen die Grundschulen in den nächsten Jahren unter erheblichen Druck. Gleichzeitig ist die Schülerschaft heterogener denn je und es ist zunehmend schwierig, eine Schulgemeinschaft zu bilden und einen störungsfreien Unterricht zu halten. Wenn zu alledem noch ein Mangel an Lehrkräften kommt und die Kolleginnen und Kollegen neben ihrem eigenen Unterricht weitere Klassen mitversorgen müssen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass Lehrkräfte den Beruf aufgeben.“ News4teachers / mit Material der dpa
Bildungsabsteiger Baden-Württemberg: Wie bekommen Politiker die Schülerleistungen wieder nach oben?