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Margret Rasfeld: “Noten schüren Vergleich und Konkurrenz, Noten führen zu Ängsten, Noten führen zur Bestnotensucht!”

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LEIPZIG. Margret Rasfeld ist die Grande Dame der Reformpädagogik in Deutschland. Die Biologie- und Chemielehrerin war bis zur Pensionierung 2016 Schulleiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, die ein Innovationskonzept mit bewusst heterogen zusammengesetzten Lerngruppen und ohne Noten umsetzt. Gemeinsam mit der Künstlerin Ute Puder sowie Schülerinnen und Schülern gründete sie 2022 das „RealLabor Friedliche Bildungsrevolution“ in Leipzig, um den ihrer Meinung nach überfälligen Haltungswandel an Schulen in die Öffentlichkeit zu bringen. Aus dieser Arbeit ist das Buch „Das Schuldrama und wie wir unsere Kinder stärken können“ entstanden. Darin dokumentieren die beiden Autorinnen Briefe von Kindern und Jugendlichen. Ein Auszug.

Margret Rasfeld macht sich für ein anderes Schulsystem stark. Foto: privat

Noten erzeugen Nöte

Was uns im RealLabor beschäftigt, ist die Frage: Wie geht es den Kindern und Jugendlichen mit den Noten? Und was uns Sorge bereitet, sind die Noten-Nöte, die in den Schülerbriefen so deutlich werden: Noten schüren Vergleich und Konkurrenz, Noten führen zu Ängsten, Noten führen zur Bestnotensucht. Das Leistungsprinzip Bestnote gefährdet die psychische Gesundheit und führt zu Überforderung und Erschöpfung. Wohlgemerkt keine Einzelfälle, wie viele Schüler:innen und auch Psycholog:innen bestätigen.

»Ich habe das Gefühl, dass Schule nur für Prüfungen da ist und dafür, uns mit Noten zu beurteilen. Wir sind aber viel mehr als eine Note.« (Schüler, 14 Jahre)

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»Ja, ich habe einen Durchschnitt von 1,0 geschafft. Ich habe zehn Stunden am Tag dafür gelernt, auch an jedem Wochenende. Und ich habe dafür Angst, Panik, und Zusammenbrüche in Kauf genommen.« (Schülerin, 15 Jahre)

»Ich habe verlernt, auf meinen Körper zu hören, denn der sagt mir schon lange: Es ist genug, du kannst nicht mehr, du bist müde und erschöpft. Aber dann kommen die Gedanken: Du musst dich anstrengen, du musst den Stoff können, du musst gute Noten schaffen.« (Schüler, 16 Jahre)

Gute Leistungen brauchen psychologische Sicherheit

Das Buch, aus dem dieser Auszug stammt. Foto: bene!

Google hat in einer umfangreichen Studie, dem Project Aristotle, herausgefunden, was die Grundlagen für Spitzenleistungen in Teams sind. Psychologische Sicherheit ist der wichtigste Faktor für Teamerfolg, ergab die Studie.11 Teams mit hoher psychologischer Sicherheit sind kreativer, engagierter und produktiver. Sie sind besser in der Lage, neue Ideen zu entwi ckeln und Herausforderungen zu meistern und effektiver zu arbeiten. Psychologische Sicherheit bedeutet, das Team als sicheren Ort zu erleben, an dem Fehler zugegeben werden können, ohne dafür bestraft oder gedemütigt zu werden. Ein inklusives Umfeld, in dem unterschiedliche Perspektiven und Hintergründe geschätzt werden, trägt zur psychologischen Sicherheit bei. Diversität führt zu kreativeren Lösungen. Auf die Schule übertragen bedeutet das: Wenn wir gute Leistungen haben wollen, müssen wir Gemeinschaft, gegenseitige Unterstützung, Zusammenhalt, Solidarität, das Füreinander-da-sein und vor allem Fehlerfreundlichkeit fördern, damit die Klasse ein sicherer Ort ist. So wundert es nicht, dass wir in Kanada mit seinem »wellbeing-Konzept« top Leistungen bei gleichzeitigem Wohlbefinden aller Beteiligten beobachten.

Doch was der Schule am besten gelingt, ist, Kindern Angst vor Fehlern einzutrichtern. Wenn wir beobachten, wie Kinder krabbeln, stehen oder laufen lernen, missglücken erst viele Versuche, bevor es klappt. Aus jedem Fehlversuch hat ihr Bewegungszentrum im Gehirn gelernt. Und ihre Eltern freuen sich, ermuntern, ermutigen. Niemand käme auf die Idee, einem Baby zu sagen: hingefallen, Note sechs. Kleine Kinder haben von Natur aus eine starke Neugierde und Lust am Lernen. Sie probieren Dinge aus, machen Fehler und lernen daraus, ohne Angst vor Misserfolg. Kleine Kinder »fehlern« sich durchs Leben, mit Freude. Ein Baby würde nie vor Scham auf dem Popo sitzen bleiben, wenn es umgefallen ist.

In der Schule ist es anders. Fehler werden gesucht, Fehler werden angestrichen, Fehler sind möglichst zu vermeiden, Fehler sind schlecht. Fehler führen zu schlechten Noten. Schlechte Noten zeugen von Versagen. Wie konnte sich die Fehler-Unfreundlichkeit so in die Schule einschleichen? Fehler sind Freunde. Fehler sind zum Lernen da! Fehler machen zu dürfen führt zu psychologischer Sicherheit in Teams und damit zu besseren Ergebnissen.

»Du kannst nicht perfekt sein. Jeder macht Fehler, das ist menschlich. Doch wenn ich etwas Falsches sage, rede ich mir später ein: Du bist eben nicht gut genug. Du bist ein Fehler im System.« (Schülerin, 15 Jahre)

»Ich will ja lernen, ich will ja Leistung bringen, ich bin bereit, mich für gute Noten anzustrengen und alles zu geben. Und dann merkst du auf einmal: Das geht ja gar nicht, das kannst du gar nicht alles hinkriegen, du verlierst die Kontrolle. Und dann merkst du, dass die Freude am Lernen verloren gegangen ist.« (Schülerin, 15 Jahre)

»Das Schlimmste sind die Abfragen vor der ganzen Klasse. Ich hab mich so oft geschämt. Und schlimm ist es auch, wenn andere Kinder weinen. Das tut einem dann selbst auch richtig weh.« (Schüler, 10 Jahre)

Die heimliche Gewalt des Systems

Neben verbalen Übergriffen gibt es in der Schule auch verletzendes Verhalten, was viele Lehrer gar nicht als Verstoß gegen die Würde des Kindes wahrnehmen. Es ist die heimliche Gewalt des Systems, die die Schüler:innen so treffend in den Briefen beschreiben: das Diktat des Stundenplans, Diktat des Stoffes, der durchgezogen werden muss, Diktat des Notenzwangs, unangekündigte Tests, Zeitdruck, Sitzzwang, Prinzip der Auslese, Konkurrenz.

Kurt Singer, Professor für Pädagogische Psychologie und Schulpädagogik, Kinderpsychotherapeut und Autor des Buches Die Würde des Schülers ist antastbar, spricht daher von der heimlichen strukturellen Gewalt der Leistungsschule . Aus seiner Sicht hängt es mit dem Leistungsprinzip zusammen, dass Schule so viele Kinder lernunwillig macht. Permanente Prüfungssituationen und Zensuren sowie die damit verbundenen Ehrgeizideale und Rivalitätszwänge stören das Lernen. Wo es vor allem um die Auslese geht, wird die Schule für einen Teil der Schüler zur »Misserfolgsanstalt« (Prof. Singer). Die vermeintliche Tugend bestehe für viele Lehrkräfte in Gehorsamsbereitschaft, im Befolgen von Regeln und Anordnungen. Dabei sind die Normierungsvorgaben schon so tief in uns verankert, dass wir vieles gar nicht mehr hinterfragen. Nach dem Motto: Es ist halt so, es war immer schon so, man kann eh nichts ma- chen. Dazu gehört beispielsweise, dass wir uns damit abfinden, dass Kinder nicht über die eigene Zeit verfügen können. Dabei sind Entwicklungsprozesse individuell. Sie können nicht beliebig beschleunigt, beherrscht oder kontrolliert werden. Schule entzieht jungen Menschen ihre Eigen-Zeit in doppelter Weise, durch das Prinzip Lernen im Gleichschritt und durch die zeitliche Überinanspruchnahme der Schüler:innen.

»Ich hab nichts mehr. Keinen Mut, keine Hoffnung, keine Lust, keine Kraft, keine Zeit. Ich hab keine Zeit. Und jede Zeit, die ich besitze, opfere ich der Schule. Mathehausaufgabe, Chemienachhilfe, Italienischvokabeln, Zeit hat für mich keine Bedeutung mehr. Zeit heißt: etwas für die Schule machen. Ich will die Zeit zurückhaben. Ich will all die Momente mit meinen Freunden, meiner Familie zurückhaben. Ich will die Zeit, die ich für mich brauche, zurückhaben.« (Schülerin, 17 Jahre)

»Unsere Hausaufgabenhefte platzen. Dann lernt man und lernt und lernt und lernt. Alle Zeit geht in die Schule. Ich kann nicht mehr, aber mein Inneres bekommt nicht einmal zwei Minuten Pause. Ich kann nicht mehr und muss wortwörtlich dagegen ankämpfen.« (Schüler, 15 Jahre)

»Ich will meine Eltern nicht enttäuschen. Mein Körper schreit nach einer Pause, aber ich muss weiterlernen. Dabei habe ich Schuldgefühle, dass ich vor Verzweiflung heulen könnte. So versuche ich, weiterzumachen, obwohl ich nicht mehr kann.« (Schülerin, 14 Jahre)

»Ich kam gerade aus der Grundschule und hatte die große Selektion überstanden. In der neuen Schule hatte ich seit dem ersten Moment Angst vor dem Scheitern, den Fehlern, der Demütigung, den schlechten Noten, der Ex und der Abfrage. Und das jede einzelne Unterrichtsstunde, jeden Tag, fünfmal die Woche. Immer quälte mich die Frage: Schreiben wir heute die Ex? Bin ich gut genug vorbereitet? Werde ich heute abgefragt?
Wen trifft es stattdessen? … Ich war doch erst elf Jahre alt. Sollte ich da nicht eigentlich das Leben eines Kindes führen? Stattdessen lernte ich für die Schule, als hinge mein Leben dran. Weil es sich auch so anfühlt. Ich möchte nicht vor der Klasse bloßgestellt werden, ich möchte nicht scheitern und ich möchte keine schlechten Noten. Ich will nicht denken müssen, dass ich versagt habe. Und das Schlimmste war: Ich sah nicht, dass all diese Last irgendwann von meinen Schultern fällt. Ich muss hier noch sieben Jahre durch. Ein Ende ist nicht in Sicht. Viele stützen das System, denn ›da mussten wir ja schließlich alle mal durch‹. Ich spüre tief in mir drin, dass hier etwas grundlegend falsch läuft. Wo bleibt die Menschlichkeit in diesem Schulsystem?

Nur wer radikal neu denkt, wird auch Neues gestalten. Gehen wir in Resonanz mit dem Schmerz der jungen Menschen in diesem Buch. Der Schmerz hat die Kraft, die verschütteten Potenziale, die unter unseren Gewohnheiten und Ängsten verborgen liegen, freizulegen.

Viele erwachsene Menschen haben Muster entwickelt, die der Härte zusagen und dem »Weiter so, hat mir auch nicht geschadet« – Muster, die uns führen, aber nicht mehr tragen. Tragende Ideen von Zukunft sind mit dem Fokus auf das Lebendige, Verletzliche verbunden. Unsere Kinder sind das innigste Symbol für alles Lebende, Anrührende, Zärtliche, Lächelnde, was unsere Herzen wirklich bewegt. Lassen wir uns von ihnen berühren. News4teachers

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