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“Von einem Lernort zu einem Bildungsraum”: Wie Harald Lesch und Klaus Zierer sich eine gute Schule vorstellen

MÜNCHEN. „Gute Bildung sieht anders aus“ – das meinen (mit Blick auf die Schule) zwei, die durchaus wissen, wie sich Wissen vermitteln lässt: Harald Lesch, Astrophysiker und Deutschlands bekanntester Wissenschaftsjournalist, und Klaus Zierer, einer der renommiertesten Bildungsforscher hierzulande. Die beiden Professoren haben sich zusammengetan, um ein Buch mit ebendiesem Titel herauszubringen. Das ist nun erschienen. „Welche Schulen unsere Kinder jetzt brauchen“, dieser Frage gehen die Autoren darin nach. Der folgende Auszug liefert Antworten.

Seit 2008 moderiert er Wissenschaftssendungen (“Terra X”) im ZDF: Prof. Harald Lesch. Foto: ZDF, Johanna Brinckman / Wikimedia Commons CC BY 4.0

Pädagogische Zeitenwende

Schule muss Freude bereiten. Kennzeichnend für Freude sind gute Gründe, Gestaltung, Gelingen, Gefühle und Gemeinschaft. Was bedeutet das im Einzelnen?

Schule als Ort der Freude braucht Gründe: Lernen heute voll zieht sich häufig ohne nachvollziehbaren Sinn für Kinder und Jugendliche. Warum soll sich beispielsweise ein Abiturient aus Bayern alle Namen der Halligen merken? Warum wird von jungen Menschen verlangt, dass sie die genaue Anzahl der Wirbelkörper benennen können? Und warum ist es bedeutsam zu wissen, aus wie vielen einzelnen Büchern die Bibel besteht?

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Der nebenstehende Text ist dem Buch entnommen. Foto: Penguin Random House

Wenn Schule diese Fragen nicht beantworten kann, dann schafft sie es nicht, dass Lernen zu Bildung wird. Zwar kann sich ein Mensch auch ohne Antworten auf diese Fragen Wissen aneignen, aber dieses Wissen wird ihn nicht als Menschen verändern, weil es ihn nicht berührt. Es nimmt folglich keinen Einfluss auf sein Denken, Handeln und Fühlen. Für die Prüfung mag es relevant sein, aber nach der Prüfung wird es schnell wieder vergessen sein. Schule heute muss also mehr als bisher die Frage nach dem Sinn des Lernens nicht nur zulassen, sondern in den Mittelpunkt rücken.

Schule als Ort der Freude braucht Gefühle: Lernen heute voll zieht sich häufig ohne die Einbindung der Emotionalität von Kindern und Jugendlichen. Wissen wird häufig als Wissen vermittelt, das in Büchern steht. Im Unterricht wird nur selten deutlich gemacht, was dieses Wissen mit den Schülern zu tun hat. Fast jeder kennt aus seiner Schulzeit das Buch-Seite-Aufgabe Spiel: Der Lehrer betritt das Klassenzimmer, das Schulbuch wird dort aufgeschlagen, wo man in der letzten Stunde aufgehört hatte, und man macht dort einfach weiter … Auch heute ist dieses Vorgehen keine Seltenheit, und Lernende fragen sich berechtigterweise: Warum soll ich das lernen? Was hat das Ganze mit mir zu tun?

Wenn Lernen für Kinder und Jugendliche keinen Sinn ergibt, dann werden sie davon nicht berührt, und die Emotionalität bleibt außen vor. Aber ohne Emotionalität kann keine Freude entstehen. Hinzu kommt, dass Schule immer stärker auf das Lernen reduziert wird. Feste und Feiern spielen sich am Rand des Schullebens ab. Der Lehrplan ist zu voll, und es bleibt keine Zeit mehr, so ist zu vernehmen, das pädagogische Klima in Richtung Lebensfreude zu entwickeln.

Regelmäßige Klassenfahrten, die Leben und Lernen verbinden, könnten hier Abhilfe schaffen, werden aber immer seltener durchgeführt. Jugendliche, deren Eltern zu arm sind, um verreisen zu können, kommen überhaupt nicht mehr weg, wenn es keine Klassenfahrten mehr gibt. Dass aber der Mensch auf Reisen sich erkennt und dadurch Freude erfährt, ist nicht erst seit Goethe bekannt. So bleibt für viele Absolventen als einzige positive Erinnerung an die Schule die Abschlussfahrt, auf der in Kompensation zum erlebten Schulelend nicht selten über die Stränge geschlagen wird. Schule heute muss also mehr als bisher die Emotionalität von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen – in unterrichtlichen und außer unterrichtlichen Aktivitäten.

Schule als Ort der Freude braucht Gestaltung: Lernen heute vollzieht sich häufig in einer Empfängerrolle. Schüler hören zu und führen aus, was der Lehrer vorträgt. Vielfach wird daraus gefolgert, dass Schülerinnen und Schüler nur passiv seien. Dies ist aber insofern falsch, als sowohl Zuhören als auch Ausführen Aktivitäten sind – und gerade das Zuhören ist eine der wichtigsten Kompetenzen des Menschen. Womit Kritiker recht haben, ist der Mangel an Gestaltung bei diesem Lernen. Sicherlich lernen Kinder und Jugendliche im Lauf ihres Lebens vieles durch Nach ahmen, und selbst der erwachsene Mensch tut dies. Doch der Mensch bleibt beim Nachahmen nicht stehen: Er probiert aus, variiert das Gehörte, sucht neue Wege und ist kreativ. Das Wort »Bewegungsfreude« bringt präzise auf den Punkt, wenn Kinder und Jugendliche beim Spielen ihrem motorischen Erfindergeist freien Lauf lassen. Ohne diese Möglichkeiten verkümmert die Neugierde der Schülerinnen und Schüler und damit auch ihre Kreativität.

Ein Lernen, das nur aus Zuhören und Ausführen besteht, wird dem Menschen nicht gerecht und ist letztlich auch inhuman. Schule heute muss also mehr als bisher die musischen Bereiche ins Zentrum rücken. Kunst, Musik und Sport gehören in den Mittelpunkt von Schule, weil sie Gestaltungszeiten und -räume liefern, in denen Freude entstehen kann.

Schule als Ort der Freude braucht Gelingen: Lernen heute vollzieht sich häufig in Bahnen des Reproduzierens von Wissen. Auch das ist eine Form des Gelingens: Die Lehrkraft stellt den Schülerinnen und Schülern eine Frage, und diese geben die richtige Antwort. Dieses Frage-Antwort-Spiel ist uns allen bekannt, und manchmal ist es auch zufriedenstellend.

Aber zur Freude braucht es mehr. Denn für das Gelingen, wie es für Bildungsprozesse im Allgemeinen und für Freude im Besonderen gemeint ist, gehört eine Herausforderung, die den Menschen in all seinen Möglichkeiten anspricht. Denken Sie hier etwa an einen Konzertauftritt, der nach wochenlangem Üben ansteht. Denken Sie an ein Kleinkind, das seine ersten Schritte wagt und erfolgreich in die Hände der Eltern wackelt. Oder denken Sie an einen Wettkampf, auf den sich eine Mannschaft intensiv vorbereitet hat und in dem sie sich von Spiel zu Spiel steigert, bis sie immer besser zusammenfindet.

Das sind Herausforderungen, wie sie der Flow Effekt beschreibt: Ausgehend vom Leistungsniveau kommt es zu einer Passung mit der Aufgabenstellung, die den Menschen nicht nur kognitiv fordert, sondern immer auch motivational und emotional. Kleine Erfolge sind hier notwendig. Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist es hinderlich, wenn es überhaupt keine Momente des Gelingens mehr gibt und sie immer nur scheitern. Das ist besonders wichtig bei den aktuellen Herausforderungen: Wer die ökologische Krise nur als Bedrohung erlebt und keine Erfahrungen macht, wie er selbst etwas dagegensetzen kann, der wird womöglich nur Angst und Ohnmacht spüren. Freude entsteht hier mit Sicherheit nicht.

Für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen ist also wichtig: Kinder und Jugendliche müssen erfahren, dass sie etwas tun können, dass sie erfolgreich agieren können. Damit wird beispielsweise das aufwendige Anlegen einer Insektenwiese, die auf das ökologische Klima zunächst kaum einen Einfluss hat, für das pädagogische Klima umso wichtiger. Schule heute muss also mehr Momente des Gelingens ermöglichen, die Kinder und Jugendliche umfassend herausfordern und sie kognitiv, emotional und motivational ansprechen.

Schule als Ort der Freude braucht Gemeinschaft: Lernen heute vollzieht sich häufig als Einzelleistung. Gerade in Prüfungen wird das sichtbar: Immer ist der Einzelne gefordert. Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund abwegig, dass im späteren Leben in allen Be reichen Kooperation notwendig ist, sondern auch angesichts der Bedeutung von Gemeinschaft für Bildung und Lernen. Gemeinschaft ist die Grundlage dafür, dass sich der Mensch entfalten kann.

Damit ist nicht gemeint, dass alle Schülerinnen und Schüler immerzu dasselbe machen müssen und der Gruppenfokus über allem anderen steht. Das wäre ebenso verkürzend wie die überzogene Feier der Individualität eines jeden Menschen. Vielmehr ist ein Ausbalancieren zwischen beiden Polen nötig. Die Gemeinschaft ist ebenso wichtig wie die Einzelleistung und der damit verbundene Wettbewerb, beides kann in gleichem Ausmaß bildungswirksam sein.

Infolgedessen sind beide Konzepte nicht als Gegensätze zu sehen, sondern sie ergänzen sich und ermöglichen mehr Freude in der Schule. Dies gelingt beispielsweise über Projekte, die aus der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen stammen und dadurch sinnstiftend und emotional ansprechend sind. In solchen Projekten wirken beide Perspektiven zusammen, die Leistung des Einzelnen in der Gruppe – denn keiner bewältigt die Aufgabe eines Projektes allein, doch ohne den Einzelnen ist Erfolg nicht möglich. Schule heute muss also mehr als bisher die Gemeinschaft fördern – weg vom Einzelkämpfer und hin zum Teamspieler.

Wenn in der Schule die skizzierten Veränderungen umgesetzt werden, dann wird Schule neu gedacht. Sie wandelt sich damit von einem Lernort zu einem Bildungsraum. In dessen Zentrum steht die Freude, weil es bewusste und vielfältige Gründe für das Lernen gibt, weil Inhalte sinnstiftend vermittelt werden und die Schüler emotional berühren, weil Momente des Gelingens immer den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten ansprechen und die Gemeinschaft der Schülerinnen und Schüler nicht nur auf dem Pausenhof oder vor den Schultoren Bedeutung erhält, sondern auch in den Klassenzimmern.

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