BRAUNSCHWEIG. Stefanie Göhmann hat in unterschiedlichen schulischen Kontexten als Lehrerin, Konrektorin und didaktische Leiterin gearbeitet. Mit Engagement hat sie ihren Beruf ausgeübt, ist aber auch an ihre persönlichen Grenzen gestoßen. Nun hat sie den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt – als Gründerin und Leiterin des „CoolturLabors“, einer Beratungsagentur, die in Bildungseinrichtungen und Unternehmen nachhaltige Bildungsprozesse anstoßen möchte. Im Interview mit News4teachers erklärt sie, warum genau sie den Schuldienst quittiert hat – und wieso ihr die Bildung von Kindern auch weiterhin am Herzen liegt.
News4teachers: Welche Beweggründe haben Sie dazu gebracht, Ihren Beruf als Lehrerin aufzugeben?
Stefanie Göhmann: Es zeichnete sich ab, dass das System für mich festgefahren war und ich mit meinen Ideen zunehmend gegen die Wand lief. An der ein oder anderen Stelle hätte ich mir mehr Wertschätzung und ein durchlässigeres System gewünscht. Auch würde ich mir wünschen, dass diejenigen in den höchsten Leitungspositionen der Schulbehörden mehr Präsenz im Praxisalltag zeigen.
News4teachers: Was müsste aus Ihrer Sicht am deutschen Bildungssystem verändert werden?
Stefanie Göhmann: Mit einem System und mit Mitteln von vorgestern versuchen wir, Kinder und Jugendliche aus der schnelllebigen Welt von heute auf ein zukunftsfähiges Morgen vorzubereiten. Wir brauchen dafür aber eine andere Kultur – nämlich eine der offenen Türen. Wir müssen miteinander sprechen und innovativere Konzepte entwickeln, wie zum Beispiel neue Rhythmisierungsformen. Es gibt Alternativen zu den klassischen 45-Minuten-Einheiten. Stattdessen könnte man Modelle wie den 80-Minuten-Unterricht einführen, bei dem durch geschickte Planung zusätzliche Ressourcen, wie eine Doppelbesetzung, generiert werden.
Wir müssten uns auch von den traditionellen Noten verabschieden. Stattdessen sollten wir Lernentwicklungsberichte und kompetenzorientierte Rückmeldungen einführen und neue Bewertungsformen finden. Weg vom bloßen Auswendiglernen, hin zu mehr praktischen Erfahrungen, zu mehr Gamification, zu mehr Haptik. Schauspiel könnte wieder stärker integriert werden. Ein Kollege beklagte sich einmal bei mir über seine Matheklasse, dass nichts funktioniere. Ich sagte: „Dann bring doch mal Kugeln oder anderes Material mit.“ Daraufhin meinte er: „Wir sind doch hier keine Förderschule.“ Diese Denkweise – meine ich – müssen wir überwinden.
Es gibt bereits gute Konzepte und wir möchten diese mit Ideen aus unserem CoolturLabor erweitern. Wir brauchen mehr individuelles Lernen und Differenzierungskonzepte. Es kann nicht sein, dass alle Schülerinnen und Schüler den selben Zettel bearbeiten. Wir müssen auch beim Sozialverhalten differenzieren. Wir können nicht erwarten, dass Kinder, die in schwierigen häuslichen Umständen aufwachsen, sich so verhalten wie jene, die in stabilen finanziellen und emotionalen Verhältnissen leben.
Vor allem brauchen wir eine andere Fehler- und Feedbackkultur. Wir müssen nicht nur mit uns selbst offener umgehen, sondern auch Raum dafür schaffen, um darüber zu sprechen, warum Dinge nicht funktionieren und was wir anders machen können. Wir sollten Vertrauen schenken, anstatt ständig zu sanktionieren. Wie wäre es zum Beispiel, im Klassenbuch auch mal positive Kommentare zu hinterlassen, wie: „Die Klasse hat heute 15 Minuten mucksmäuschenstill gearbeitet, ich bin stolz auf euch.“
News4teachers: War für Sie der Schuldienst denn nur frustrierend – oder haben Sie auch positive Erfahrungen gemacht?
“Die größte Herausforderung war für mich immer der Umgang mit veralteten Denkmustern und traditionell eingefahrenen Perspektiven”
Stefanie Göhmann: Ich habe während meines Masterstudiums eine Stelle als pädagogische Mitarbeiterin an einer Haupt- und Grundschule angenommen. Eines Morgens um 7:00 Uhr wurde ich angerufen, ob ich spontan sechs Stunden Sportunterricht an der Hauptschule vertreten könnte. Als ehemalige Handballspielerin und Teamsportlerin habe ich zugesagt. In meiner ersten Stunde stand ich dann vor einer Gruppe Neuntklässler, die mich mit höhnischen Blicken fragten: „Was willst du denn hier?“
Ich bin jemand, der in solchen Momenten in jugendsprachlicher Intonation zurückfragt: „Was willst du denn jetzt hier?“ Diese unkonventionelle Art der Ansprache ermöglichte mir schnell einen Zugang auch zu schwierigen Schülerinnen und Schülern. Der besondere Zugang zu herausfordernden Heranwachsenden war immer meine größte Stärke. Nichts ist schöner, als zu sehen, wie ein vermeintlich „schwieriges“ Kind aufblüht, wenn man ihm Empathie, Gehör, Zeit, Verständnis und Wertschätzung schenkt.
Seit dem Beginn meiner Dienstzeit 2012 habe ich den Aufbau von zwei Gesamtschulen begleitet. Zunächst war ich an einer fünfzügigen städtischen Gesamtschule im Entstehen als Tutorin tätig, später als Konrektorin und Fachbereichsleiterin für musisch-kulturelle Bildung und Ganztag. Schließlich übernahm ich im ländlichen Raum an einer Gesamtschule im Entstehen als Gesamtschulrektorin in Funktion einer didaktischen Leiterin die Verantwortung für alle didaktisch-pädagogischen Prozesse an der Schule. Ich hatte das große Glück, tagtäglich etwas Neues gestalten zu können. Das war natürlich sehr herausfordernd, weil es keine bestehenden Strukturen gab, auf die man zurückgreifen konnte. Doch die Möglichkeiten, die sich boten, waren großartig.
Die erste integrierte Gesamtschule, an der ich arbeitete, war von Anfang an auf Lernbüros und innovatives Lernen, etwa mit einem Mitmach-Zirkus und Glück als Schulfach, ausgerichtet. Es gab spezielle Differenzierungsräume, in denen die Schüler*innen individuell arbeiten konnten. Außerdem hatten wir Sozialtraining und ein Gruppentischkonzept, sodass niemand allein saß. Meine damalige Schulleiterin und Mentorin hatte ein innovatives Gespür, Mut zum Unkonventionellen und war sehr wertschätzend. Davon habe ich nachhaltig gelernt und maßgeblich profitiert.
Später durfte ich eine Gesamtschule im ländlichen Raum als didaktische Leiterin begleiten, nachdem ich zuvor anderthalb Jahre in der Initiativarbeit tätig war. Der Landkreis war sehr großzügig und innovativ weitsichtig: Jedes Kind, unabhängig von der Herkunft, erhielt im Rahmen eines Pilotprojektes ab der fünften Klasse ein iPad, das zentral administriert wurde. Wir setzten das Tablet mit seinen Basisfunktionen vor allem als methodisches Werkzeug ein und arbeiteten außerdem mit der Lernplattform itslearning. Außerdem hatten wir tägliche Lernbürozeiten, pädagogische Nächte in der Schule und ein Jahrmarktkonzept, das handlungsorientierte, differenzierte Leseförderung mit Talentförderung kombinierte.
News4teachers: Und welche Probleme gab es für Sie?
Stefanie Göhmann: Die größte Herausforderung war für mich immer der Umgang mit veralteten Denkmustern und traditionell eingefahrenen Perspektiven. Es ist schwer nachvollziehbar, dass heute noch an Hausaufgaben, ans Nachsitzen oder ans Abschreiben von Schulordnungen geglaubt wird. Viele Erwachsene scheinen vergessen zu haben, wie man sich mit 14 fühlt.
In meiner Erfahrung an Schulen, insbesondere an einer integrierten Gesamtschule (IGS), ist organisatorisch eines der größten Probleme die enorme Klassengröße. Eine IGS muss Klassen bis zu 30 Schüler*innen auffüllen. Diese heterogene Schülerschaft mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Lernständen zu managen ist herausfordernd – aber auch sehr erfüllend.
Ein weiteres Problem ist allerdings die Starrheit des Systems. Viele etablierte Regeln und Regularien werden hingenommen und nicht ausreichend hinterfragt. Sie scheinen einfach festgelegt zu sein – wie das Notensystem. Der Beamtenstatus trägt meiner Meinung nach zu dieser Trägheit bei. Es gibt wenige Anreize zur Veränderung. Die Hierarchien bieten nur begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten. Entsprechend langsam ist das System. Eigentlich müssten wir viel schneller auf neue Herausforderungen reagieren, doch das passiert nicht, weil die Bereitschaft zu Wandel nicht von allen mitgetragen und dadurch ausgebremst wird. Gleichzeitig werden von außen zu wenig Impulse aufgenommen.
Ein weiteres Problem ist die große technologische Lücke. Wir sprechen viel zu wenig darüber, dass viele Kolleg*innen, vor allem Frauen, Hemmungen haben, digitale Medien im Unterricht einzusetzen. In den Achtzigern wurden Computer oft als Spielzeug betrachtet, aber heute müssen wir Gamification und digitale Medien viel stärker in den Unterricht integrieren, uns mit den Medien auseinandersetzen, sie ausprobieren. Wir müssen die Schüler*innen dort abholen, wo sie sind. Stattdessen arbeiten wir mit veralteten Materialien und Kopien, die mit der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen kaum etwas zu tun haben. Videospiele sind ein entscheidendes Werkzeug zur Förderung von MINT und Lesekompetenzen, dessen Mehrwert nur erfasst werden kann, wenn man selbst gespielt hat – wie ich: Meine Eltern haben beide schon in den frühen 80er Jahren Videospiele gespielt und ich bin von klein auf aktiv damit sozialisiert worden.
“Auch jemand, der dreimal von der Hauptschule geflogen ist, gehört für mich dazu”
News4teachers: Mit welchen Erwartungen und Wünschen wurden Sie didaktische Leiterin einer Gesamtschule? Konnten Sie Ihre Ziele erreichen?
Stefanie Göhmann: Ich war der pädagogische Teil des Leitungsteams. Wir hatten einen Schulleiter und eine stellvertretende Schulleiterin, und wir arbeiteten vernetzt im Team zusammen, was man als kollegiale Schulleitung bezeichnet. Zu meinen Aufgaben gehörten die Fachbereiche, Personalverantwortung für pädagogische Mitarbeiter*innen und die Begleitung von Anwärter*innen und Studierenden. Ich war gern Teil des dreiköpfigen Leitungsteams. Wir ergänzten uns gut und waren in unserer Haltung vereint.
Es war genau diese kreative Position, die ich angestrebt hatte, und in meinem Personalentwicklungsgespräch an meiner vorherigen Schule habe ich klar geäußert, dass ich didaktische Leiterin werden wollte. Mit diesem Ziel bin ich in die Initiativarbeit eingestiegen.
Es wurde schließlich eine Planungsgruppe einberufen und wir haben ein halbes Jahr lang nebenberuflich im Team die ersten Schritte für diese neue Schule geplant. Die Schule wurde praktisch mit mir zusammen eröffnet. Mein Ziel war es, Veränderungen zu bewirken. Obwohl ich schon an einer sehr innovativen Schule tätig war, bin ich von Natur aus ein rastloser Mensch.
Durch meine Erfahrungen als Tutorin und Fachbereichsleiterin wusste ich, dass es bei der Gründung einer neuen Schule viel Handlungsspielraum gibt, vor allem wenn man ein innovatives Team um sich hat. Diesen Gestaltungsspielraum wollte ich in einer Leitungsfunktion weiter nutzen. Vieles davon ist auch gelungen. Wir haben sehr innovative Konzepte entwickelt und sind dreizügig gestartet. Im darauffolgenden Jahr sind wir sogar auf vier Züge angewachsen. Ich habe viel selbst mitgestaltet, merkte jedoch mit dem zunehmenden Verwaltungsaufwand und dem Wachstum der Schule, dass ich immer weniger Möglichkeiten hatte, direkt am Unterrichts- und Schulleben teilzunehmen und Vorbild zu sein.
News4teachers: Welche Hürden gab es auf dem Weg?
Stefanie Göhmann: Für den starken Innovationsgedanken, den ich verfolgt habe, insbesondere die Idee, dass eine Gesamtschule wirklich eine Schule für alle sein sollte, hatte ich eine klare Vorstellung. Auch jemand, der dreimal von der Hauptschule geflogen ist, gehört für mich dazu, und ich bin überzeugt, dass wir einen Weg finden müssen, das zu ermöglichen. Doch mit der Zeit wurde mir immer deutlicher, dass dies nicht an allen Stellen umsetzbar ist und vor allem nicht von allen mitgetragen wird. Ich merkte, dass es von innen heraus schwierig ist, etwas zu bewegen, vor allem mit meiner unkonventionellen Art. Man muss sich sehr stark in das System und seinen Takt einfügen.
News4teachers: Was bedeutet für Sie Zufriedenheit im Job?
Stefanie Göhmann: Dass ich morgens aufstehe, in den Spiegel schaue und mir bewusst mache, dass ich mit der Haltung, die ich in meinem beruflichen Alltag lebe, im Reinen bin. Denn wir Erwachsenen tragen eine große Verantwortung – nicht nur in der Schule, sondern allgemein. Wir neigen dazu, immer alles erklären zu wollen, und besonders bei Kindern und Jugendlichen tun wir das sehr intensiv. Dabei verhalten wir uns oft so, als würden wir selbst keine Fehler machen. Doch ich glaube, wir müssen uns viel häufiger auf Augenhöhe begegnen, uns wirklich zuhören und uns die nötige Zeit füreinander nehmen. Wir können unsere Meinungen nicht einfach anderen aufdrücken.
Genau hier beginnt meine Zufriedenheit. Ich möchte etwas bewegen, um mehr Humanität in unser Miteinander zu bringen. Das war auch der Grund, warum ich Lehrerin geworden bin und warum ich Schulen begleiten und leiten wollte. Es ging mir nie um eine entsprechende finanzielle oder formale Anerkennung. Ich habe alles, was ich getan habe, mit viel Liebe und Leidenschaft gemacht. Ich bin überzeugt, dass wir in allen Bereichen wieder menschlicher miteinander umgehen müssen. Wir müssen pluraler denken und mehr auf unsere Mitmenschen achten. Daraus entwickelt sich dann eine Haltung, die eine wirklich inklusive und integrative Gesellschaft ermöglicht.
“Ich habe nach wie vor großen Respekt vor allen Kolleginnen und Kollegen, die jeden Tag versuchen, die großen und wachsenden Herausforderungen in der Schule zu meistern”
News4teachers: Durch den Wechsel in die Selbstständigkeit mussten Sie Ihren Beamtenstatus aufgeben…
Stefanie Göhmann: Das sind natürlich enorme finanzielle Einbußen. Für mich war jedoch klar, dass ich keine halben Sachen machen möchte. Ich kann nicht einerseits den Rettungsschirm des Beamtentums in Anspruch nehmen und andererseits mein eigenes Ding machen. Deshalb musste ich eine klare Trennung vornehmen.
Ich möchte aber klarstellen: Ich liebe den Beruf als Lehrerin – ich bin nicht davor weggelaufen. Im Gegenteil: Ich möchte ihn weiter mitgestalten und als „Bildungsarchitektin“ mehr Schüler*innen einen guten Lernraum sowie Lehrkräften mehr Zufriedenheit im Beruf ermöglichen. Ich habe nach wie vor großen Respekt vor allen Kolleginnen und Kollegen, die jeden Tag versuchen, die großen und wachsenden Herausforderungen in der Schule zu meistern. Ich durfte einige sehr inspirierende Lehrkräfte treffen, viel von ihnen lernen, weiß aber auch, dass insgesamt viel Fortbildungsbedarf und oftmals auch ein Haltungswechsel notwendig ist. Dabei kann jede und jeder selbst aktiv werden. Nina Odenius, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
