GIESSEN. Immer mehr Schulen in und um die hessische Stadt Gießen schlagen Alarm: Die Belastung der Lehrkräfte und die strukturellen Probleme im Bildungssystem haben ein kritisches Niveau erreicht. Überlastungsanzeigen häufen sich – mindestens 13 Schulen im Bezirk haben bereits beim Kultusministerium um Hilfe gerufen. Doch warum scheint die Situation gerade hier so dramatisch?
„Die Bürde, die der Schule aufgelegt wird, wird einfach immer höher“, kritisierte Silke Flemming, Lehrerin und Personalrätin am Landgraf-Ludwigs-Gymnasium in Gießen, bereits im Juni gegenüber der „hessenschau“. Die Pädagogin beschrieb, wie sich gesellschaftliche Veränderungen wie die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, Lernrückstände und ein steigender Anteil von Schülern mit Deutsch als Zweitsprache auf die Arbeit auswirken. „Die Schüler, die wir jetzt haben, brauchen viel mehr Aufmerksamkeit als die, die wir früher hatten.“
Anlass für das Statement: Immer mehr Schulen in der Region Gießen sehen sich gezwungen, formale Überlastungsanzeigen beim hessischen Kultusministerium einzureichen. Laut der „Gießener Allgemeinen“ haben inzwischen 13 von etwa 140 Schulen im Schulamtsbezirk solche Anzeigen gestellt. Das ist keine Kleinigkeit: „Überlastungsanzeigen sind (schriftliche) Hinweise an den Arbeitgeber beziehungsweise unmittelbaren Vorgesetzten mit der Kernaussage, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der Arbeitsleistung in einer konkret zu beschreibenden Situation gefährdet ist, und Schäden zu befürchten sind“, so erklärt die GEW.
Konkret begründen die Lehrkräfte ihre Überlastung beispielsweise mit ständig neuen Sonderaufgaben, etwa durch fehlendes oder häufig wechselndes Personal, wachsende Bürokratie oder die Organisation des Ganztags. Auch die Inklusion bringe sie an ihre Grenzen. Es gebe zu wenig Stundenkontingente und Fachkräfte dafür.
Gefordert wird in den Überlastungsanzeigen ein ganzes Bündel von Entlastungsmaßnahmen: etwa eine Reduzierung der Pflichtstundenzahl für Lehrkräfte, die Zuweisung einer Entlastungsstunde für Klassenleitungen, die Erhöhung des Schul-, Schulleiter- und Schulleitungsdeputats, die stärkere Entlastung für Mentoren, reduzierte Klassengrößen, mehrsprachige Unterstützung und mehr Personal für die Integrationsarbeit, eine Ausweitung der Unterstützung durch sozialpädagogische Kräfte und der Schulsozialarbeit sowie der Ausbau der Beratungs- und Förderzentren, der zusätzliche Einsatz von Förderlehrkräften, die Abschaffung von Lernstandserhebungen und Förderplänen für Regelschüler sowie Entlastungstage für Korrekturen.
Unterstützung gibt es vom örtlichen Kreisverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Gewerkschaft sieht die Situation in Gießen als „Zeichen für eine Krise des Bildungssystems“. Die Lehrkräfte seien am Limit. Dies könne etwa zu Schlafstörungen und einem erhöhten Burnout-Risiko führen.
„Es ist wohl eher so, dass es bei uns derzeit einfach eine größere Bereitschaft gibt, so eine Überlastungsanzeige auf den Weg zu bringen“
Doch wieso häufen sich die Überlastungsanzeigen in dem Bezirk derart? Aus Sicht des zuständigen Schulamts ist die Situation in Gießen keinesfalls schlimmer als anderswo. Durch die Nähe zur Universität gebe es im Schulamtsbezirk sogar vergleichsweise wenig Lehrkräftemangel. „Es ist wohl eher so, dass es bei uns derzeit einfach eine größere Bereitschaft gibt, so eine Überlastungsanzeige auf den Weg zu bringen“, so heißt es dort laut „hessenschau“. Ungeachtet dessen nehme man solche Überlastungsanzeigen ernst. Die Situation werde vor Ort geprüft. Bei vielen Themen, die in den Überlastungsanzeigen eine Rolle spielen, handle es sich allerdings um bildungspolitische Fragen, die man nicht vor Ort klären könne – sondern nur auf Landesebene. „Das Schulamt kann beispielsweise nicht Pflichtstunden für Lehrkräfte ändern oder Klassengrößen reduzieren.“
Das Kultusministerium konnte auf Anfrage des Hessischen Rundfunks keinen Grund für die Häufung von Meldungen aus der Region Gießen nennen. Hessenweit habe man in den vergangenen Jahren keinen allgemeinen Anstieg festgestellt. Als häufigste Gründe für die Überlastung wurden laut Kultusministerium räumliche Gegebenheiten angegeben, etwa bauliche Mängel und Sauberkeit, sowie gestiegenes Arbeitspensum, beispielsweise für Verwaltungstätigkeiten. Auch „herausfordernde Arbeitsbedingungen“, etwa durch verhaltensauffällige Kinder oder anspruchsvolle Elternarbeit, sowie Mehrarbeit durch Inklusion und Integration wurden genannt.
„Ungeachtet der Anzahl eingehender Überlastungsanzeigen, wird jede einzelne dieser Anzeigen sehr ernst genommen“, so erklärte das Kultusministerium. Man mache den Schulen, „die Unterstützungsbedarf signalisieren“, individuelle Angebote in einem „Entwicklungsprozess“ zwischen Schule und dem zuständigen Schulamt. Begleitet werde dies von landesweiten Maßnahmen, die eine „Stärkung der Schulen insgesamt zum Ziel haben“.
„Leider stehen dem Schulamt die Mittel, die eine realistische Chance auf Entlastung bieten, nicht zur Verfügung“
Wie der GEW-Kreisverband auf Anfrage des „Gießener Anzeigers“ allerdings nun mitteilt, habe sich für die Lehrkräfte seit der Übermittlung der Überlastungsanzeigen im vergangenen Schuljahr „nichts Entscheidendes verändert“. Das Schulamt habe mit viel Personaleinsatz in den Schulen zwar Gespräche mit Leitungen und Personalräten geführt. Aber: „Leider stehen dem Schulamt die Mittel, die eine realistische Chance auf Entlastung bieten, nicht zur Verfügung“, so die Gewerkschaft. „Deshalb fordern wir weitere konkrete Maßnahmen mit Entscheidungsträgern auf der Ebene des Schulträgers, des Schulamtes und auf Ebene des Ministeriums.“
Der Umgang mit den Überlastungsanzeigen könne nicht als abgeschlossen gelten, wenn die Lehrkräfte auch nach Monaten noch keine Entlastung spürten. News4teachers
