MÜNCHEN. In der kommenden Woche wird die Schülerin Amelie eine Petition zur Abschaffung von Stegreifaufgaben und unangekündigten Abfragen an die Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bayerischen Landtags übergeben. Diese Initiative hat es zu mehr als 50.000 Unterstützern gebracht. Für morgen sind begleitende Demonstrationen in Bayern angekündigt. Es ist die spannende Frage, wie die CSU-Mitglieder des Ausschusses und des Landtags mit dieser von vielen gewünschten Reform umgehen – ein Gastkommentar von Roland Grüttner, ehemaliger Rektor einer Grund- und Mittelschule und einer Montessorischule in Bayern; er betreibt den Blog paedagokick.de.
Verfassung oder Filz in Bayern?
Markus Söder, derzeitiger Ministerpräsident, hat die Entscheidung bereits vorweggenommen: „Exen und Abfragen werden natürlich bleiben“, sagte er, als er bei der CSU-Fraktionsklausur im oberfränkischen Kloster Banz von der Initiative hörte. Dass das sein programmatisches Denken widerspiegelt und nicht nur ein spontaner Ausfluss war, zeigt die Wiederholung und Begründung dieses Satzes.
Es stellt sich damit die Frage: Regiert in Bayern die Verfassung – oder der Filz?
Die Gewaltenteilung wird in der Bayerischen Verfassung bekanntermaßen so geregelt: „(1) Die gesetzgebende Gewalt steht ausschließlich dem Volk und der Volksvertretung zu. (2) Die vollziehende Gewalt liegt in den Händen der Staatsregierung und der nachgeordneten Vollzugsbehörden. (3) Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige Richter ausgeübt.“ (BayVerf Art. 5)
Auch in Bayern gibt es also eine Legislative, nämlich den bayerischen Landtag und seine Einrichtungen wie eben auch den Bildungsausschuss. Dieser nimmt Petitionen entgegen, berät darüber und gibt Beschlussempfehlungen an den Landtag.
So beschreibt er selbst seine Aufgaben: „Der Bildungsausschuss berät dazu federführend Gesetze und Anträge. Reformen, die das Schulleben erheblich verändern, finden zum großen Teil ihren Niederschlag im Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG), in dem das gesamte bayerische Schulwesen zusammenfassend geregelt ist. Die immer wieder notwendige Neuanpassung dieses Gesetzes ist eine der wesentlichen Aufgaben des Ausschusses.“
Der Ministerpräsident ist in Bayern Teil der vollziehenden Gewalt, der Exekutive. Er unterbreitet dem Landtag Vorlagen der Staatsregierung, so Art. 47 (5) der Bayerischen Verfassung. Aber vor allem: „Der Staatsregierung und den einzelnen Staatsministerien obliegt der Vollzug der Gesetze und Beschlüsse des Landtags.“ (Bay Verf Art 55, 2)
Deutlich also: Der Ministerpräsident bestimmt zwar die Richtlinien der Landespolitik, er ist aber nicht der oberste Herrscher, sondern der oberste Diener (denn „ministrare“ heißt „dienen“) und hat die vom Landtag (der Legislative) beschlossenen rechtskonformen Gesetze zu vollziehen.
Was bedeutet Söders Ansage zu den Exen? Man könnte die Aussage, dass die Exen und Abfragen „natürlich bleiben“ werden, auf die leichte Schulter nehmen und in typisch fränkischer Manier werten: „Der sagt viel, wenn der Tag lang ist.“ In der Tat darf man nicht jedes Wort speziell dieses Ministerpräsidenten auf die Goldwaage legen.
Aber das entspricht nicht dem im Verlauf seiner Amtszeit deutlich gewordenen Selbstverständnis Söders. Er spielt mit der Ambivalenz, aber geht davon aus, dass seine Worte Richtlinienkompenz zum Ausdruck bringen, und zwar nicht nur für seinen Amtsapparat, sondern für den gesamten Freistaat. Oder, um eine bestimmte Zielgruppe schärfer ins Auge zu fassen: für die Leute in „seiner“ Partei. Dieser Ministerpräsident ist nämlich zugleich Parteivorsitzender der CSU, die seit Jahrzehnten maßgeblich bestimmt, wo es in Bayern langgeht.
Er trifft also auch eine Ansage für seine Parteimitglieder in der Landtagsfraktion. Damit schafft er eine Konfliktlinie für die Gewaltenteilung:
Er zeigt nicht nur dem Volk (dem eigentlichen Souverän) seinen Willen und nicht nur der (von ihm vorher nicht konsultierten) Kultusministerin als Mitglied seiner Regierung, sondern auch den Landtagsabgeordneten seiner Partei. Lassen die sich davon beeinflussen? Ja, weil es ihr Parteichef ist? Oder nein, weil sie als Abgeordnete zur Eigenverantwortung befreit und verpflichtet sind? „Die Abgeordneten sind Vertreter des Volkes, nicht nur einer Partei. Sie sind nur ihrem Gewissen verantwortlich und an Aufträge nicht gebunden.“ (Bay Verf Art 13, 2)
„Nur ihrem Gewissen verpflichtet“! Natürlich wäre es denkbar, dass sämtliche Mitglieder der CSU-Landtagsfraktion ihr eigenes Denken soweit mit dem ihres Parteivorsitzenden in Übereinstimmung gebracht haben, dass ihr eigener freier Wille mit dem Söders harmoniert. „Einmütigkeit“ wäre ein einschlägiges politisches Zauberwort, dem ich allerdings mit Skepsis begegne. Wenn 85 meist gestandene Frauen und Männer, die fest im Leben stehen, einer Meinung sind, dann könnte man dafür auch eine „Parteidisziplin“ als Ursache sehen, die sich mit Art. 13 der Verfassung beißt.
Söders Ansage stellt also die Bayerische Verfassung gleich doppelt in Frage: Zum einen mischt sich die Exekutive unzulässig in den Kompetenzbereich der Legislative ein. Und zum zweiten verstößt die (unausgesprochene) Erwartung von Einmütigkeit bzw. Parteidisziplin gegen die Gewissensfreiheit der Abgeordneten.
Nun gibt es zwei herausgehobene Personen in der CSU, die im Sinne der Gewaltenteilung am anderen Ufer, nämlich in der Legislative, sitzen müssen: die eine ist die Landtagspräsidentin; die andere die Vorsitzende des Bildungsausschusses.
Haben wir alle uns schon daran gewöhnt, dass dass das Wort des Ministerpräsidenten Gesetz wird?
Die Landtagspräsidentin (Ilse Aigner) hat dafür Sorge zu tragen, dass die Exekutive nicht in den Kompetenzbereich des Landtags über- und dem Gesetzgebungsprozess vorgreift. In ähnlicher Weise hat die Vorsitzende des Bildungsausschusses (Dr. Ute Eiling-Hütig) zu verdeutlichen, dass selbstverständlich die von der Verfassung und der Geschäftsordnung des Landtags vorgesehen Abläufe einzuhalten sind und sich in keinster Weise an den Aussagen eines Mitglieds der Exekutive zu orientieren haben.
Dabei reicht es nicht, dass die beiden möglicherweise in privater Runde ihrem Parteivorsitzenden ihre persönliche Meinung zu seiner Äußerung kundtun. Sondern es wäre ihr verfassungsgemäßer Auftrag, jeden Übergriff eines Mitglieds der Exekutive auf die ausschließlichen Rechte der Legislative öffentlich und mit deutlichen Worten zu unterbinden.
Geschieht dies nicht, weil sich nicht nur Frau Aigner und Frau Dr. Eiling-Hütig, sondern wir alle uns schon daran gewöhnt haben, dass seit Jahrzehnten in Bayern die Tendenz herrscht, dass das Wort des Ministerpräsidenten Gesetz wird, dann stehen besonders in unserem Bundesland die Verfassungsorgane in der Gefahr, sich zu verflechten, so dass das wächst und wuchert, was von der CSU immer vehement abgestritten wird: der Filz.
Filz ist ja ein faseriges Gebilde, das durch Druck und Schub entsteht, wenn es gleichzeitig eingeweicht wird. Ich denke, wir sollten alle darauf achten, dass der Filz nicht gegen die in der Bayerischen Verfassung festgeschriebene Gewaltenteilung zur Herrschaft gelangt!
Söder könnte der Besuch einer Verfassungsviertelstunde zum Thema Gewaltenteilung auch nicht schaden
Zu den „obersten Bildungszielen“ gehören laut Bayerischer Verfassung Artikel 131 „Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit“ und die Schüler „im Geiste der Demokratie“ zu erziehen. Und Artikel 115 regelt: „Alle Bewohner Bayerns haben das Recht, sich schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Behörden oder an den Landtag zu wenden.“ (BV Art 115, 1)
Wenn eine Schülerin eine Petition, gleich zu welchem Thema, einreicht, dann freuen wir Lehrer:innen uns darüber,
- (1) dass die Bayerische Verfassung verstanden wurde – das hat Amelie N. übrigens auch ohne die von oben verordnete „Verfassungsviertelstunde“ hingekriegt;
- (2) dass ein junger Mensch Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit zeigt, sich engagiert und nicht nur über die bestehenden Verhältnisse motzt;
- (3) und sich im Geist der Demokratie auf einen nicht einfachen Weg macht.
Diesen pädagogischen Gewinn droht ein ministerielles Machtwort zu zerstören, und zwar nicht nur für Amelie, sondern für alle zur Verantwortung bereiten Schülerinnen und Schüler Bayerns. Ein Elefant im Porzellanladen verursacht weniger Kollateralschaden als dieser Regierungschef. Ihm war die „Verfassungsviertelstunde“ ein wichtiges Anliegen, damit die Schüler:innen die Grundregeln der Demokratie erkennen. Diese hebelt er eigenhändig aus, deshalb könnte ihm selbst der Besuch einer Verfassungsviertelstunde zum Thema Gewaltenteilung auch nicht schaden.
Die beiden oben angesprochenen Vertreterinnen der bayerischen Verfassungsinstitutionen, Frau Aigner und Frau Eiling-Hütig, können nun bei der Übergabe der Petition zeigen, wie weit her es bei ihnen mit „Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit“ ist, dass sie im „Geist der Demokratie“ zuerst im Sinne der Verfassung und nicht nach dem Willen eines Parteichefs agieren. Die bayerischen Schülerinnen und Schüler werden den Umgang der CSU mit der bayerischen Verfassung sehr genau beobachten und daraus lernen! News4teachers