MÜNCHEN. Anfang Mai ist für viele bayerische Familien kein gewöhnlicher Moment im Schuljahr – sondern ein emotionaler Ausnahmezustand. Denn am morgigen 2. Mai erhalten die bayerischen Viertklässler ihr Übertrittszeugnis – ein Dokument, das über die weitere Schullaufbahn entscheidet. Für viele ist es der Auftakt in eine belastende Bildungsbiografie. Für die einen bedeutet es Stolz und Erleichterung, für die anderen Scham, Enttäuschung und Ausgrenzung.
„Und wie jedes Jahr stellt sich die Frage: Warum halten wir an einem System fest, das nachweislich ungerecht ist und Kindern schadet?“ Das fragt der Verein Eine Schule für alle in Bayern e.V. in einer aktuellen Pressemitteilung. Die Kritik wiederholt sich jährlich – und bleibt dennoch folgenlos.
Das Übertrittszeugnis in Bayern basiert auf einem Notenschnitt aus drei Fächern: Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht (HSU). Die Grenze für das Gymnasium liegt bei 2,33, für die Realschule bei 2,66. Bereits kleine Rundungsunterschiede können den Weg versperren. Der Verein nennt ein Beispiel: „Mathe 2,66 → 3, Deutsch 1,66 → 2, HSU 2,55 → 3 – das ergibt einen gerundeten Schnitt von 2,67. Kein Zugang zu Realschule oder Gymnasium – Zuweisung zur Mittelschule.“ Würde man mit den exakten Zahlen rechnen, käme ein Schnitt von 2,29 heraus – genug fürs Gymnasium.
„Dieses leistungsorientierte System hat zur Folge, dass bei Kindern teilweise die Note einer einzigen Prüfung entscheidet, ob das Kind auf das Gymnasium gehen kann oder nicht“
Noch willkürlicher wird es durch eine neue Regelung: Seit diesem Schuljahr darf die Rechtschreibung auch in fachfremde Bewertungen einfließen. Wie stark, entscheidet jede Lehrkraft selbst. Das schafft Unsicherheit. „Wenn ein Komma oder ein Rechtschreibfehler über den Bildungsweg entscheidet, ist das nicht nur fragwürdig, sondern auch willkürlich“, warnt der Verein.
Schon vor über zehn Jahren belegte eine Studie von Prof. Heinz Reinders vom Institut für Pädagogik der Universität Würzburg, dass fast 50 Prozent der Kinder beim Übertritt massiven Stress erleben. Bei jedem sechsten Kind sei sogar das Kindeswohl gefährdet. Die schriftliche Befragung von 1.620 Eltern aus den Bundesländern Bayern und Hessen zeigte seinerzeit konkret auf, dass
- die an Schulnoten gekoppelte und bindende Übertrittsregelung in Bayern zu einer höheren Stressbelastung bei Kindern führt als die hessische Form der beratenden Übertrittsempfehlung.
- vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien einer hohen Stressbelastung ausgesetzt sind, weil sie weniger über stresshemmende Schutzfaktoren verfügen als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern.
- Eltern durch überzogene und unrealistische Bildungserwartungen die Stressbelastung für ihre Kinder nochmals erhöhen und hierdurch zur Gefährdung ihrer Kinder beitragen.
- die Grundschulkinder in Bayern, die an der Notenschwelle zwischen Mittel- und Realschulempfehlung liegen, eine erhebliche Risikogruppe darstellen. „Die SchülerInnen weisen nicht nur die höchsten Stresswerte auf, sie sind auch die einzigen SchülerInnen, bei denen der Stress von der dritten zur vierten Klasse dramatisch ansteigt“, so heißt es in der Studie.
Auch der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) kritisiert das starre, punktuell übermäßig leistungsorientierte System scharf. Gegenüber dem „Nordbayerischen Kurier“ betont BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann: „Wir sind das einzige Bundesland, in dem Noten, ohne Beteiligung der Eltern, ausschlaggebend für den Übertritt sind. Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass das jetzige System aus unserer Sicht kontraproduktiv ist.“ Besonders Wackelkandidaten hätten es schwer. „Dieses leistungsorientierte System hat zur Folge, dass bei Kindern teilweise die Note einer einzigen Prüfung entscheidet, ob das Kind auf das Gymnasium gehen kann oder nicht“, so Fleischmann weiter.
Im Interview mit der „Frankenpost“ führt sie das Beispiel eines Kindes aus einer Ärztefamilie an, dessen Eltern sich für ihren Nachwuchs ebenfalls ein Medizinstudium wünschen: „Und nun muss das Kind eine Zwei im nächsten Aufsatz schreiben, sonst reicht es nicht für das Gymnasium. Das ist ein immenser familiärer Druck, der auf einem zehnjährigen Kind lastet. Das Kind denkt, die Welt bricht zusammen – und bringt dann nicht die Leistung, die es andernfalls hätte bringen können. Das ist alles andere als ideal.“ Fleischmann verweist auf die Folgen für die Bildung im Freistaat. „Wir haben mehr Kinder, die wiederholen müssen, als jedes anderes Bundesland. Auch die Zahl der Abbrecher ist hoch. Die starren Notenanforderungen und das fehlende Einbeziehen der Eltern führen dazu, dass unser derzeitiges System nicht funktioniert. Da muss sich etwas ändern.“
„Das hat ganz stark psychische Folgen. Die Kinder, die dem nicht gerecht werden können, spüren das ganz deutlich“
Bei Nachhilfeanbietern sorgt das bayerische Übertrittszeugnis für ein florierendes Geschäft. „Bis zu zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler in unseren Einrichtungen sind im Grundschulalter“, sagt Patrick Nadler vom Bundesverband Nachhilfe- und Nachmittagsschulen (News4teachers berichtete). Der größte Ansturm kommt vor dem Zeugnis im Mai – viele Eltern hoffen, „noch etwas zu retten“. Doch Nachhilfe kostet. Einzelunterricht liegt im bundesweiten Schnitt bei 18 bis 28 Euro für 45 Minuten – in München oft sogar bei 40 Euro pro Stunde. Wer wenig verdient, hat schlechte Karten. Zwar gibt es staatliche Unterstützung über das Bildungs- und Teilhabepaket – aber nicht, wenn es „nur“ um eine Notenverbesserung für das Übertrittszeugnis geht.
„Das unterstreicht eine Ungerechtigkeit in den Chancen“, warnt Martin Löwe, Landesvorsitzender des Bayerischen Elternverbands. „Eltern, die ein entsprechend gefülltes Portemonnaie haben, können ihr Kind besser fördern.“ Eine Folge: „In keinem Industrieland ist der Bildungserfolg der SchülerInnen so abhängig von ihrer sozialen Herkunft wie in Deutschland“, sagt Christine Lindner vom Eine Schule für alle in Bayern e. V. „Ein enormes Potenzial ist unserer Gesellschaft so bereits verloren gegangen – und Unternehmen beklagen den Mangel an Fachkräften.“
In vielen Familien herrscht derweil hoher Leidensdruck. Wenn ein Kind an seine Grenzen stoße und nur mit Nachhilfe auf eine höhere Schulform komme, litten durch das ständige Pauken oft Lernfreude und Lebensqualität, schildert die Leiterin der Abteilung Schul- und Bildungspolitik im BLLV, Sabine Bösl. Außerdem bedeute dies normalerweise, dass das Kind auch in den kommenden Jahren Nachhilfe brauchen werde.
Bösl betont deshalb: „Eigentlich sollte ein Kind auf einer Schulart sein, wo es wirklich mit der normalen Anstrengung dem Ziel der jeweiligen Schulart gerecht wird.“ Die Rektorin der Quirin-Regler-Grundschule im oberbayerischen Holzkirchen erlebt seit Jahren immer stärker, wie viele ihrer Schülerinnen und Schüler gegen Ende der Grundschulzeit unter Druck stünden – meist noch verstärkt durch die Eltern. „Da wird zusätzlich geübt und gemacht und gelernt, damit das irgendwie noch klappt mit dem Übertritt.“
„Wir haben wirklich viele Kinder, denen das richtig zusetzt“, schildert Bösl die Folgen der Notenfixierung. „Das hat ganz stark psychische Folgen. Die Kinder, die dem nicht gerecht werden können, spüren das ganz deutlich.“ Die Folge: Kinder, die in Tränen ausbrechen, wenn sie in einer Probe eine Drei haben. Und Kinder, die ausgegrenzt werden, wenn der Schnitt nur für die Mittelschule gereicht hat. News4teachers / mit Material der dpa
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers heiß diskutiert (Auszug):
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