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Die große Mehrheit der Lehrkräfte befürwortet (eigentlich) Inklusion – möchte aber Förderschulen erhalten

BERLIN. Lehrkräfte wollen Inklusion – doch sie scheitern täglich an fehlender Unterstützung, zu großen Klassen und unklaren Strukturen. Eine neue forsa-Umfrage im Auftrag des VBE zeigt: Trotz politischer Versprechen ist die inklusive Schule für viele Kolleginnen und Kollegen noch immer ein Kraftakt ohne Kompass. Besonders bitter: Wer Inklusion praktisch lebt, ist oft am unzufriedensten.

Inklusion ist Alltag in vielen Schulen – aber… Foto: Shutterstock

„Die Inklusion in der Schule ist in den letzten fünf Jahren kaum vorangekommen“, kommentiert der stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Tomi Neckov. Dies zeigt die vom VBE in Auftrag gegebene, repräsentative forsa-Befragung von 2.737 Lehrkräften zur schulischen Inklusion. Nach Befragungen in 2015, 2017 und 2020 können mit der Umfrage 2025 Entwicklungen aufgezeigt werden – wo es sie gibt.

„Die größte Herausforderung bleibt, dass die Lehrkräfte die Chancen von Inklusion sehen, aber täglich mangelnde Ausstattung und fehlende Unterstützung erleben. Hier zeigt sich ein strukturelles Versagen. Die Politik muss begreifen: Inklusion ist kein Randthema – sie ist ein Prüfstein für den Zustand unseres Bildungssystems. Und wenn 41 Prozent der Befragten angeben, dass ihre Schule nicht barrierefrei ist, wird offensichtlich, dass etwas gehörig schiefläuft. Der mangelnde Zugang betrifft nicht nur Kinder mit Behinderung“, betont Neckov. „Auch Eltern und Lehrkräfte werden ausgeschlossen. Das widerspricht dem Grundrecht auf Teilhabe und freie Berufswahl.“

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„Es bleibt dabei: Auf die Lehrkraft kommt es an. Und wenn die nicht angemessen unterstützt wird, kann Inklusion nicht gelingen“

Die Situation: 82 Prozent der Lehrkräfte geben an, dass an ihrer Schule bereits Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet werden. Unverändert geben 54 Prozent der befragten Lehrkräfte an, dass es an ihrer Schule bereits inklusive Lerngruppen gebe. In 4 Prozent der Fälle ist die Einrichtung solcher Gruppen geplant.

Lehrkräfte, an deren Schule es bereits inklusive Lerngruppen gibt, sagen, dass in diesen Gruppen im Durchschnitt etwa 19 Kinder sind. Die Zahl der Kinder in diesen Gruppen, die einen sonderpädagogischem Förderbedarf haben, wird im Schnitt unverändert mit 4 Kindern angegeben.

Die grundsätzliche Zustimmung zur Inklusion ist unter den Lehrkräften hoch – eigentlich: 62 Prozent der Befragten (2015: 57 Prozent) halten das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung für sinnvoll. Bei Lehrkräften mit praktischer Erfahrung im inklusiven Unterricht liegt der Anteil sogar bei 69 Prozent.

Doch aufgrund fehlenden Personals, großer Klassen und mangelnder individueller Förderung halten nur 28 Prozent Inklusion auch in der aktuellen schulischen Umsetzung für praktikabel. Das hat Folgen: Die meisten Lehrkräfte (77 Prozent) sprechen sich dafür aus, auch bei Einrichtung eines inklusiven Schulsystems die bisherigen Förder- und Sonderschulen mehrheitlich (44 Prozent) oder sogar vollständig (33 Prozent) zu erhalten. Nur 19 Prozent meinen, dass eine Mehrheit der Förder- und Sonderschulen abgeschafft werden sollte und nur 3 Prozent sprechen sich dafür aus, dass sie ganz abgeschafft werden.

Es zeigt sich eine starke Korrelation zwischen dem Befürworten des Abschaffens von Förderschulen und der Erfahrung mit Inklusion: Während 39 Prozent der Lehrkräfte an Schulen, an denen es keine inklusive Lerngruppe gibt und auch keine geplant ist, es für grundsätzlich sinnvoller halten, Kinder mit Behinderungen in Förderschulen zu unterrichten, sind es bei denen mit eigener Unterrichtserfahrung in einer inklusiven Lerngruppe nur 28 Prozent. Neckov betont: „Das Erleben macht offen für die Vorteile von Inklusion! Es darf aber keine Zusatzaufgabe ohne Ressourcen sein. Die Offenheit für das inklusive Beschulen und die Aufgabe, dies umzusetzen, muss mit den notwendigen Rahmenbedingungen einhergehen.“

Aber die fehlen vielerorts. In zwei Dritteln der Fälle bleibt die Klassengröße unverändert, wenn Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinzukommen. Ebenfalls zwei Drittel der Befragten geben an, dass inklusiv unterrichtende Lehrkräfte regelmäßig eine Doppelbesetzung mit einer sonderpädagogischen Fachkraft an der Seite haben – auch wenn sich das fast alle wünschen. Die Unterstützung multiprofessioneller Teams kann nur die Hälfte der Befragten wahrnehmen.

Weitere Ergebnisse: Die Lehrkräfte, die selbst in inklusiven Lerngruppen unterrichten, wurden um eine Einschätzung gebeten, bei welchen Förderschwerpunkten sie bei Kindern im Schulalltag den größten Unterstützungsbedarf sehen. Dabei zeigen sich zwischen den einzelnen Förderschwerpunkten mitunter deutliche Unterschiede. (Sehr) großen Unterstützungsbedarf sehen die befragten Lehrkräfte vor allem bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (91 Prozent), bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen (85 Prozent) und bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (81 Prozent).

Eine große Mehrheit (64 Prozent) sieht (auch) größeren Unterstützungsbedarf bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Sprache. Die Hälfte sieht größeren Unterstützungsbedarf bei Kindern mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen (50 Prozent). Bei den Förderschwerpunkten Sehen (43 Prozent) und Hören (34 Prozent) sehen vergleichsweise weniger Lehrkräfte (sehr) großen Unterstützungsbedarf bei den Kindern.

Herausfordernde Situationen können an den Schulen kaum aufgefangen werden. Nur von einem Fünftel der befragten Lehrkräfte wird von unterstützenden Maßnahmen an ihrer Schule berichtet. Neckov macht deutlich: „Die Konsequenz dieser Arbeitsbedingungen sind Überlastung und Frustration. Die Politik muss reagieren und mit kurzfristig zu ergreifenden Maßnahmen für echte Entlastung sorgen!“

Trotz wachsender Anforderungen fühlen sich viele Lehrkräfte unzureichend vorbereitet: Zwei Drittel berichten, dass Inklusion in der Ausbildung inklusiv unterrichtender Lehrkräfte nicht vorkam, und fast die Hälfte verfügt nicht über sonderpädagogisches Wissen. Spezielle Fortbildungen im Vorfeld und begleitend zur Einführung inklusiven Beschulens wurden von über der Hälfte der Lehrkräfte wahrgenommen. Zwei Drittel der Lehrkräfte (67 Prozent), die an Schulen mit inklusiven Lerngruppen unterrichten, geben an, dass die Lehrkräfte nur wenige Wochen (49 Prozent) oder noch weniger (18 Prozent) Zeit hatten, um sich auf das inklusive Unterrichten vorzubereiten. Tomi Neckov dazu: „Viel mehr Lehrkräfte würden Fortbildungen wahrnehmen, aber der Mangel an Angeboten und Zeit verhindert das.“

Zudem braucht es feste Koordinierungsstrukturen und Besprechungen während der Arbeitszeit. Die Zahl der Befragten, die angeben, dies zu haben, hat sich verdoppelt. „Trotzdem bleibt es für jede Person in der Wirtschaft unvorstellbar: Meetings zwischen Tür und Angel oder gar in der Freizeit. Für Lehrkräfte ist das Alltag. Da ist die Demotivierung doch vorprogrammiert“, kritisiert Neckov.

„Die Entlastung, die sich die Politik von dem Einsatz digitaler Endgeräte erhofft, darf nicht überbewertet werden“

Die Umfrage zeigt auch, dass drei Viertel der befragten Lehrkräfte digitale Endgeräte zur individuellen Förderung in inklusiven Settings nutzen. An Grundschulen und Förderschulen etwas mehr, an Gymnasien etwas weniger. Die Hälfte nutzt entsprechende Angebote mindestens wöchentlich – zum Beispiel Lern-Apps und Spiele. Es werden differenzierte Aufgabenstellungen erstellt oder das eigenständige Lernen der Schülerinnen und Schüler unterstützt. Zudem können körperlich beeinträchtigte Kinder digitale Endgeräte für alternative Darstellungsformen nutzen oder sich Aufgabenstellungen vorlesen lassen.

Neckov meint: „Der Einsatz digitaler Unterstützungsmöglichkeiten ist richtig, gut und ein Gewinn für den Unterricht. Aber es kann den persönlichen Kontakt zur Lehrkraft nicht ersetzen. Die Entlastung, die sich die Politik von dem Einsatz digitaler Endgeräte erhofft, darf nicht überbewertet werden.“

Der stellvertretende Bundesvorsitzende des VBE macht deutlich: „Es bleibt dabei: Auf die Lehrkraft kommt es an. Und wenn die nicht angemessen unterstützt wird, kann Inklusion nicht gelingen. Genau das ist aber noch immer die Situation – und sie bessert sich im Vergleich zu 2020 nicht deutlich genug. So verwundert es nicht, wenn fast die Hälfte eher unzufrieden und über ein Drittel sogar sehr unzufrieden mit der Inklusionspolitik im Bundesland ist. Besonders gravierend: Jene, die selbst in inklusiven Lerngruppen unterrichten, sind öfter sehr unzufrieden, nämlich sogar 44 Prozent der Befragten. Ein Armutszeugnis für die Politik!“

Für Neckov ist klar: „Was wir jetzt brauchen, ist ein echter Aufbruch. Wir fordern mehr Personal, mehr Qualifikation, mehr Zeit für Zusammenarbeit und endlich barrierefreie Schulen. Damit Inklusion in die Mitte der Gesellschaft kommt.“ News4teachers 

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