BERLIN. Eine unabhängige Aufarbeitungsstudie enthüllt: Die GEW hat sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen über Jahrzehnte verharmlost – und in Teilen sogar legitimiert. Mädchen galten als „mitverantwortlich“, betroffene Jungen wurden ignoriert, beschuldigte Lehrkräfte verteidigt. Immerhin, mit großem zeitlichen Abstand stellt sich die größte Bildungsgewerkschaft Deutschlands ihrer Verantwortung. Doch reicht das?
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat über Jahrzehnte sexualisierte Gewalt in Bildungseinrichtungen verharmlost, Täter geschützt und Betroffene ignoriert – zu diesem erschütternden Schluss kommt eine 374-seitige wissenschaftliche Aufarbeitungsstudie, die von der Gewerkschaft selbst in Auftrag gegeben worden war und nun vorgestellt wurde. Die Studie ist ein selbstkritischer Blick auf die eigene Geschichte – und zugleich eine Mahnung, wie gefährlich es ist, wenn eine Bildungsgewerkschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht wird.
Ein „Schweigen“, das strukturell war
Die Studie mit dem Titel „Wissenschaftliche Aufarbeitung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der GEW von 1950 bis heute“ wurde vom Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) und dem Berliner dissens – Institut für Bildung und Forschung erstellt. Sie analysiert systematisch gewerkschaftliche Publikationen, Rechtsschutzfälle, interne Schriftwechsel sowie Interviews mit Zeitzeuginnen, Betroffenen und Funktionärinnen.
Ihr Fazit ist eindeutig: Die GEW hat in ihren Reihen jahrzehntelang sexualisierte Gewalt nicht nur verharmlost – sie hat sie in Teilen sogar legitimiert. „Die Betroffenenperspektive spielte in der GEW lange Zeit keine wahrnehmbare Rolle. Sexualisierte Gewalt wurde als Randthema diskutiert“, heißt es. Und weiter: „Sexuelle Kontakte zwischen (männlichen) Lehrern und Schülerinnen im Teenageralter, also sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, [wurden] eher toleriert, das Abhängigkeitsverhältnis ausgeblendet.“
Täter-Opfer-Umkehr, Verharmlosung, Ignoranz
Bereits in den 1950er Jahren habe sich in gewerkschaftlichen Texten ein Narrativ etabliert, das männliche Lehrkräfte als Opfer „verführerischer“ Schülerinnen darstellte, so die Studie: „Dieses diskursive Muster setzt sich von den 1950er Jahren bis teilweise in die 1980er Jahre fort.“
Wie die Geschäftsführerin des IPP, Helga Dill, berichtete, hieß es in der GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“ etwa zu verbotenen Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen: „Mädchen sind mitverantwortlich, weil sie so verführerisch sind.“ Mit solchen Zuschreibungen sei in GEW-nahen Publikationen eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben worden. Das Machtverhältnis und die Verantwortung erwachsener Lehrkräfte spielten hingegen kaum eine Rolle. Zugleich wurde sexualisierte Gewalt systematisch außerhalb pädagogischer Institutionen verortet, erklärte Dill. Das habe zur Folge gehabt, dass die tatsächlichen „Ermöglichungsbedingungen von sexualisierter Gewalt im schulischen Kontext“ unerkannt geblieben seien – also gerade dort, wo die GEW als Schutzinstanz hätte wirken müssen.
Ein Zeitzeuge, befragt im Rahmen der Studie, berichtete: „Da war es üblich, eine Zeit lang, jahrelang, dass die Schulleiter und die gesamte Schulleitung […] gemeinsam nach [Land] fuhren mit Schülerinnen und sich dort vergnügten. Und das gar nicht schlimm fanden. Das fanden die ganz normal.“ Eine Zeitzeugin erzählt: „Er hat sich also ihnen genähert so mit Candlelight-Dinner und alles so schön und ‚Guck mal, du bist doch schon achtzehn oder siebzehneinhalb‘ oder so ‚sechzehn, ich verrate dir auch ein bisschen was von der nächsten Klausur‘ oder vom Abitur dann, ‚ein paar Fragen Abituraufgaben‘, was er tat. Und die ließen sich drauf ein.“
Sexualisierte Gewalt sei in diesem Milieu nicht nur relativiert, sondern regelrecht romantisiert worden: „Sexueller Missbrauch wird in dieser Logik zu einer einvernehmlichen Win-win-Situation gerahmt. […] Die Perspektive des Täters wird nicht nur stillschweigend akzeptiert, sondern sogar mitgetragen“, so die Studienautor*innen.
Ein weiteres gravierendes Versäumnis betrifft die fehlende Wahrnehmung männlicher Betroffener. Zwar standen im gewerkschaftlichen Diskurs ohnehin selten die Opfer sexualisierter Gewalt im Mittelpunkt – doch Jungen blieben dabei nahezu vollständig unsichtbar. Die Studie hält dazu fest: „Noch weniger präsent war die Vorstellung, dass auch Jungen von sexualisierter Gewalt betroffen sein könnten.“ Diese Ausblendung sei Teil einer größeren Blindstelle gewesen, so die Autor*innen: In gewerkschaftlichen Kontexten seien sexualisierte Grenzverletzungen und die damit verbundenen Machtasymmetrien lange Zeit kaum thematisiert worden – und wenn doch, dann meist mit Blick auf weibliche Opfer. Die fehlende geschlechtersensible Perspektive stellt damit auch die Frage nach der tatsächlichen Reichweite des gewerkschaftlichen Kinderschutzverständnisses.
Gewerkschaftlicher Rechtsschutz: Schutz für Täter
Besonders kritisch beleuchtet die Studie in diesem Zusammenhang den gewerkschaftlichen Rechtsschutz. Dort wurden beschuldigte Lehrer oft reflexhaft verteidigt – auf Kosten der Betroffenen. „Hier geht es im Wesentlichen um die Entlastung beschuldigter GEW-Mitglieder zu Lasten von sexualisierter Gewalt betroffener Kinder und Jugendlicher oder auch Kolleg*innen“, erklärte GEW-Vorsitzende Maike Finnern bei der Vorstellung der Ergebnisse. Auch Malte Täubrich, Geschäftsführer des dissens-Instituts, berichtete: „Die Perspektiven von Betroffenen blieben unberücksichtigt. Stattdessen gibt es eine Illusion von Neutralität.“
Die Studie benennt dies als strukturelles Problem: Die GEW sei in einem Dilemma zwischen ihrer Funktion als Interessenvertretung des pädagogischen Personals und ihrer Rolle als Bildungsgewerkschaft zum Schutz von Kindern. Doch diese Spannung habe zu oft zum Täterschutz geführt. Ein Interviewzitat bringt das auf den Punkt: „Die GEW ist ja die Gewerkschaft der Lehrenden und nicht der Lernenden. Und insofern fällt es ihr da schwer, sich zu positionieren.“
Entgrenzungen in den Landesverbänden – Berlin und Hamburg unter der Lupe
Die Autoren untersuchten exemplarisch die GEW-Landesverbände Berlin und Hamburg – mit brisanten Ergebnissen. In Hamburg wurde ab 1968 sexualisierte Gewalt nicht nur relativiert, sondern offen pädophile Positionen toleriert. In der Berliner Bildungszeitschrift wurde laut Nordkurier „immer wieder Partei für Lehrer ergriffen, die des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden“. In Hamburg dagegen erschien 1992 und 1993 ein Themenheft zur Gefährdung von Kindern – eine frühe Ausnahme, die jedoch folgenlos blieb. „Für den Hamburger Landesverband könne man von einer ‚Verdrängung der Verantwortung‘ sprechen“, so die Studienautorin Franziska Behringer.
GEW-Chefin Finnern: „Es macht sprachlos“
GEW-Vorsitzende Maike Finnern zeigte sich betroffen: „Das zunehmende Wissen über die Prävalenz, die Ermöglichungsbedingungen und Folgen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen ist bedrückend und beschämend, es macht sprachlos.“ Man wolle sich „der Verantwortung stellen“ – mit einem ganzen Katalog von Maßnahmen. Dazu gehören:
- strengere Prüfung gewerkschaftlicher Rechtsschutzanträge in Fällen sexualisierter Gewalt,
- mehr Supervision für Lehrkräfte,
- Schulung und Sensibilisierung der Mitglieder,
- sowie die Erarbeitung von Schutzkonzepten gemeinsam mit der Unabhängigen Beauftragten gegen Kindesmissbrauch, der Kultusministerkonferenz und dem Bundesbildungsministerium.
Die Empfehlungen der Studie gehen noch weiter: Gefordert werden unter anderem geschlechtersensible Prävention, die Förderung der Partizipation Betroffener und eine transparente Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Die Studienautor*innen warnen: „Dieser Bericht sollte ein Anstoß für weitere (wissenschaftliche) Aufarbeitungsbestrebungen sein und unter keinen Umständen einen Schlusspunkt der Aufarbeitung markieren.“ Denn: Das Versagen war tiefgreifend, die Relativierung sexualisierter Gewalt strukturell und die Konsequenzen für Betroffene oft katastrophal.
Besonders bedrückend ist der geschilderte Umgang mit Lehrkräften, die sexualisierte Gewalt im Kollegium thematisierten – sogenannte Whistleblowerinnen. Wer Missstände offenlegte oder sich auf die Seite betroffener Schülerinnen und Schüler stellte, riskierte nicht selten berufliche Nachteile und soziale Ausgrenzung im Kollegium.
Die Studie dokumentiert eindrücklich, wie subtil, aber wirkungsvoll Machtinstrumente eingesetzt wurden, um Kritikerinnen mundtot zu machen – etwa durch gezielte Benachteiligung bei der Stundenplanung. „Ich hatte nie einen unterrichtsfreien Tag“, schildert eine Lehrerin. Andere berichten davon, systematisch von Informationen und Entscheidungen ausgeschlossen worden zu sein. Die Botschaft war klar: Wer die Solidarität mit betroffenen Kindern über den Schutz der Kolleg*innen stellte, stellte sich gegen die Gemeinschaft – und wurde isoliert. News4teachers
Hier lässt sich der vollständige Abschlussbericht herunterladen.
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