BERLIN. Lehrkräfte sehen sich zunehmend nicht nur pädagogischen Erwartungen, sondern auch juristischem Druck ausgesetzt. Eltern klagen wegen Noten, Schulplätzen oder weil ihr Kind im Hort mit einer Regenbogen-Fahne konfrontiert wird. Eine Berliner Anwältin berichtet von ihrer vollen Kanzlei – und von wachsender Kampfbereitschaft auf Elternseite. Und ein Schulrechtsexperte warnt: Die Konflikte in der Schule nehmen zu. Nicht jeder Fall landet vor Gericht, aber fast immer auf dem Rücken der Lehrerinnen und Lehrer.
Die Tochter solle endlich wieder Fleisch bekommen. Kein weiteres Tofu, keine Linsenbällchen, keine veganen Pfannkuchen mehr – forderten die Eltern. Und sie zogen vor Gericht. Was wie ein schlechter Witz klingt, war ein echter Fall am Verwaltungsgericht Freiburg: Eltern aus dem Raum Konstanz verlangten im Eilverfahren, dass ihre Tochter täglich Fleisch oder Fisch in der Schulmensa serviert bekommt – und nicht nur einmal pro Woche, wie es das aktuelle Verpflegungskonzept vorsieht.
Begründung: Eine vegetarische Ernährung sei potenziell gesundheitsgefährdend, die Tochter könne mangelernährt werden. Das Gericht winkte ab. Die Schülerin müsse das Schulessen ja nicht in Anspruch nehmen, entschieden die Richter. Der Fall ist damit juristisch abgeschlossen. (News4teachers berichtete.)Aber er steht exemplarisch für eine neue Zeit: Wenn Eltern mit schulischen Entscheidungen nicht einverstanden sind, greifen sie immer häufiger zu rechtlichen Mitteln
„Wenn ein Kind zweimal sitzen bleibt und in der Folge das Abitur nicht machen kann, ist das schicksalhaft – da kämpfe ich“
Eine, die diese Entwicklung nicht überrascht, ist Simone Pietsch. Seit über 25 Jahren vertritt sie als Anwältin in Berlin Eltern, die gegen Schulen vorgehen – wegen Noten, Schulplätzen, Ausschlüssen, Mobbing oder pädagogischen Sanktionen. In einem Interview mit der Zeit schildert sie den Alltag in einer Kanzlei, die im Sommer kaum zur Ruhe kommt.
„Von Mai bis September herrscht bei uns Hochbetrieb“, berichtet sie. „Ich arbeite bis zu 60 Stunden die Woche. Häufig auch aus dem Homeoffice, und auch mal um sechs Uhr morgens oder noch um 23 Uhr abends.“ Der Grund: Zeugnisse werden vergeben, Schulplätze verteilt – und viele Eltern sind unzufrieden.
Die häufigsten Fälle? „Ganz klar: Schulplatzklagen und Notenklagen“, sagt Pietsch. Letztere reichten von Streit über eine schlechtere Kunstnote – „weil das Kind doch so schön male“ – bis zu Fällen mit großer Tragweite: „Wenn ein Kind zweimal sitzen bleibt und in der Folge das Abitur nicht machen kann, ist das schicksalhaft – da kämpfe ich.“
Aber das Spektrum ist breiter: Eltern klagen auch, wenn ihr Kind einen Verweis bekommt oder als Sanktion von der Klassenfahrt ausgeschlossen wird. „Oder wenn es gemobbt wird und niemand in der Schule eingreift.“ Für Letzteres sei sie oft die letzte Hoffnung: „Ich bekomme jede Woche mindestens zwei Anfragen von Müttern, die völlig am Ende sind, weil ihr Kind nicht mehr zur Schule will.“
Ein Fall, der ihr besonders im Gedächtnis blieb: Ein Kind wurde systematisch ausgegrenzt, und der Schulleiter ließ die zuständige Lehrkraft gewähren. Doch nicht in jedem Fall könne sie helfen. „Wenn Nacktbilder in Gruppenchats kursieren, ist das ein Fall fürs Strafrecht“, sagt sie. Ihre Rolle beginne dort, wo die Schule untätig bleibe.
Pietsch schildert auch einen Fall, in dem ein Schüler durch die schlechtere Note einer Lehrerin seinen Schulwechselplatz verlor – obwohl er ein Zusatzreferat mit Bestnote abgeliefert hatte. „Das Referat floss aber nicht in die Gesamtnote ein. Da habe ich geklagt. Mit Erfolg.“
„Eltern wollen Klassen vermeiden, in denen der überwiegende Teil der Schüler aus bildungsfernen Familien kommt“
Besonders aufgeladen sei das Thema Schulplatz – nicht nur in Berlin oder Köln, sondern auch in kleineren Städten wie Gera. „Man muss unterscheiden“, erklärt Pietsch, „bei den Grundschulen geht es oft darum, bestimmte Schülergruppen zu vermeiden.“ Und sie sagt ganz offen: „Eltern wollen Klassen vermeiden, in denen der überwiegende Teil der Schüler aus bildungsfernen Familien kommt, die Kinder kaum Deutschkenntnisse haben oder ihre Familien schlecht integriert sind.“
Eine andere Realität treffe auf weiterführende Schulen zu: In Berlin fehlten derzeit rund 20.000 Plätze – und das Aufnahmeverfahren sei aus ihrer Sicht „völlig verfehlt“. Nur zehn Prozent der Kinder würden über Härtefälle berücksichtigt, 60 Prozent nach Noten, der Rest durch Los. Dazu komme: „54 Minuten einfacher Schulweg gelten in Berlin als zumutbar – das sind fast zwei Stunden am Tag. Für einen Zwölfjährigen im Winter, im Dunkeln, mit Umsteigen und Fußweg durch einen Park. Das ist doch irre.“
Manche Eltern würden in ihrer Verzweiflung sogar Scheinanmeldungen inszenieren. Pietsch berichtet von einem Studenten, der gezielt Müttern Untermietverträge verkaufte, um sie im Einzugsgebiet einer begehrten Schule anzumelden. Heute müsse man Stromrechnungen, Telefonverträge und andere Belege vorlegen, um wirklich im Stadtteil verortet zu sein.
„Bei Ärzten oder Polizisten gibt es Standards und Verfahren zur Überprüfung von Fehlverhalten – bei Lehrern nicht“
Pietsch nimmt in ihrer Analyse des Systems kein Blatt vor den Mund. Sie kritisiert, dass viele Lehrkräfte in stark hierarchischen Denkstrukturen verhaftet seien. „Lehrer denken oft in oben und unten“, sagt sie – also in Autoritätsverhältnissen, die sie aus der Schule selbst kennen. „Viele kennen die Institution Schule nur aus zwei Perspektiven: erst als Schüler – also von unten –, dann als Lehrer – von oben.“ Diese biografische Einseitigkeit präge oft ihr pädagogisches Selbstverständnis – und erschwere eine partnerschaftliche Kommunikation mit Eltern oder Schülern auf Augenhöhe.
Im Gerichtssaal werde diese Ordnung plötzlich auf den Kopf gestellt: „Dann steht der Richter oben – und der Lehrer sitzt wieder auf der Bank“, formuliert Pietsch scharf. Damit meint sie: In Verfahren wegen schulischen Fehlverhaltens erleben Lehrkräfte eine ungewohnte Umkehrung der Rollen. Die gewohnte Autorität ist aufgehoben – sie müssen sich verantworten, statt zu bewerten.
Pietsch hält das für notwendig – und zugleich für zu selten. Sie fordert mehr juristische und psychologische Kontrolle über das Handeln von Lehrkräften. Denn: „Bei Ärzten oder Polizisten gibt es Standards und Verfahren zur Überprüfung von Fehlverhalten – bei Lehrern nicht.“ Eine Schulnote etwa sei nur im Ausnahmefall juristisch angreifbar, obwohl sie über Bildungswege entscheide. Und auch persönliche Eignung oder pädagogische Kompetenz würden im Lehrberuf kaum systematisch überprüft.
Dabei hätten Lehrerinnen und Lehrer, so Pietsch, eine enorme Verantwortung – nicht nur für fachliche Inhalte, sondern auch für das emotionale und soziale Wohl von Kindern. Ihre drastische Diagnose lautet deshalb: „Lehrer sind Menschen mit Waffen – aber ohne Waffenschein.“ Was sie offensichtlich meint: Lehrerinnen und Lehrer verfügen über eine enorme „Wirkungsmacht“ – im besten Fall prägen sie Kinder fürs Leben, im schlimmsten Fall beschädigen sie ihr Selbstwertgefühl, ihren Bildungsweg oder ihr Vertrauen in Institutionen. Diese Macht werde in Deutschland zu wenig hinterfragt oder kontrolliert.
„Die Zahl und die Schwere der Konflikte zwischen den Parteien ist deutlich gestiegen“
Dass die Zahl der juristischen Klagen gegen Schulen explodiert sei, bestritt Dr. Thomas Böhm, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schulrecht, noch 2023 entschieden. „Was Klagen im juristischen Sinne anbetrifft, kann ich keinen deutlichen Anstieg erkennen“, sagte er seinerzeit gegenüber dem Klett-Themendienst. Aber: „Die Zahl und die Schwere der Konflikte zwischen den Parteien ist deutlich gestiegen.“ Der Unterschied: Ein Konflikt muss nicht zwingend in einer Klage enden, kann aber das Schulklima massiv belasten – etwa durch Beschwerden, eskalierende Elterngespräche oder öffentliches Misstrauen gegenüber Lehrkräften.
Böhms Appell: „Reden, reden, reden.“ Für beide Seiten gelte: Fakten statt Emotionen, Argumente statt Anschuldigungen. Lehrkräfte müssten Noten nachvollziehbar begründen. Eltern müssten lernen, was rechtlich durchsetzbar ist – und was nicht.
Um reden zu können, muss allerdings Gesprächsbereitschaft erkennbar sein – auf beiden Seiten. Das ist offensichtlich nicht immer der Fall. So landete unlängst in Berlin ein Konflikt vor Gericht, bei dem es vordergründig um eine Banalität ging: Eltern hatten geklagt, weil im Hort ihrer Grundschule eine Regenbogen-Flagge hing. Sie forderten: Die Fahne müsse weg. Doch das Berliner Verwaltungsgericht entschied: Die Flagge bleibt. Sie stehe für „Vielfalt der Geschlechter und für Toleranz“ und sei kein Verstoß gegen das staatliche Neutralitätsgebot (News4teachers berichtete auch darüber). Der Fall zeigt, worum es Eltern heute immer öfter geht: um Kontrolle über pädagogische Inhalte – bis hin zum Kulturkampf. News4teachers
Hier geht es zum vollständigen Interview mit Rechtsanwältin Pietsch in der “Zeit”.
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