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Schule der Zukunft: Weg vom Prinzip der Auslese! Experten empfehlen radikalen Kurswechsel in der Bildung

GÜTERSLOH. Die Schule der Zukunft soll anders ticken: persönlicher, kooperativer, kompetenzorientierter. Eine Expert*innengruppe aus Bildungspolitik und Forschung hat konkrete Vorschläge erarbeitet, wie Schule Kinder und Jugendliche auf die Zukunft vorbereiten kann. Im Zentrum stehen individuelle Lernprozesse – und eine Prüfungskultur, die Entwicklung statt Defizite sichtbar macht.

Schule der Zukunft? Illustration: Shuttestock

Die neun Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Lern- und Prüfungskultur fordern nicht weniger als einen Paradigmenwechsel – weg von einer Schule, die auf Selektion und Noten fokussiert ist, hin zu einer Bildungsinstitution, die individuelle Lernprozesse begleitet, Kooperation stärkt und Prüfungen als Lerngelegenheiten versteht.

Die Empfehlungen sind das Ergebnis einer von der Bertelsmann-Stiftung initiierten Expert*innengruppe unter der Leitung von Martina Diedrich und Professor Kai Maaz vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Über ein Jahr lang entwickelten elf Vertreter:innen aus Bildungsministerien sowie Landesinstituten für Schule und Wissenschaft „eine gemeinsame Vision für eine veränderte Lern- und Prüfungskultur an Schulen“, wie es im Abschlussbericht heißt. Dabei erhielten sie punktuell Unterstützung von Fachleuten aus der Schulpraxis und der Wissenschaft.

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Im Zentrum: ein weites Bildungsverständnis

Bereits zu Beginn ihres Empfehlungspapiers erklären die Autor*innen, dass Schule in ihrer bisherigen Form nicht mehr ausreicht, um Lernende für die Zukunft zu wappnen. „In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert […] muss die Schule Heranwachsende vor allem darauf vorbereiten, mit einer lebenslangen Unsicherheit bezüglich ihres eigenen Wissens umzugehen und sich eigenständig neue Wissensbestände zu erschließen.“ Im Zentrum ihrer Empfehlungen steht daher ein erweitertes Bildungsverständnis. Neben sprachlicher und mathematischer Grundbildung geht es ebenso um überfachliche Kompetenzen, „im Sinne der Selbstregulation, Medien‑ und Digitalkompetenzen sowie demokratieerhaltender und ‑gestaltender Kompetenzen.“

Von Lehrerinnen und Lehrer sowie allen anderen „an Schule professionell Tätigen“ verlangen die Autor*innen deshalb „Commitment und Selbstverpflichtung“. Die Anstrengungen in schulischer Bildung und Erziehung sollen sich „konsequent darauf ausrichten, Heranwachsenden den Erwerb der für die Transformation notwendigen Kompetenzen zu ermöglichen“. Dazu müssten Lehrkräfte sowie pädagogisch Verantwortliche durch ihre Ausbildung oder durch Fortbildungen befähigt werden.

Ruf nach systematischer Diagnostik

Hinzu kommt der Anspruch, das Spannungsfeld zwischen Mindestanforderungen und individueller Exzellenz produktiv zu gestalten. So heißt es: „Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht auf Bildung […], die Gelegenheit zum Erwerb eines Bildungsminimums […]. Zugleich sollte sich schulisches Lernen darauf ausrichten, alle Kinder und Jugendlichen zu maximaler Potenzialentfaltung anzuleiten und ihnen ihr individuelles Bildungsmaximum zu ermöglichen.“

Für Lehrkräfte bedeutet das: Differenzierung wird zum durchgängigen Prinzip. Das verlangt nach systematischer Diagnostik, kontinuierlicher Lernverlaufsbeobachtung und maßgeschneiderten Förderangeboten. Unterstützung sollen Lehrkräfte dabei durch geeignete Instrumente der Lernverlaufsdiagnostik erhalten – deren Entwicklung und Bereitstellung sei Aufgabe der Wissenschaft, der Landesinstitute und der Bildungsadministration. „Daneben müssen entsprechende schulgesetzliche Regelungen seitens der Ministerien geschaffen werden, um die Erhebung und Nutzung individueller Verlaufsdaten sowie flexible Spielräume für individuelle Lern- und Entwicklungspfade zu eröffnen.“

Zwischen Individualisierung und Teamarbeit

Deutlich wird, dass die Expert*innen Lernen nicht nur als Einzelleistung verstehen, sondern auch als sozialen Prozess. So lautet die dritte Empfehlung: „Schulisches Lernen stellt eine Balance zwischen individuellen Lernwegen und kooperativer Problemlösung her. Dabei werden sowohl Räume für Partizipation und Selbstbestimmung geöffnet als auch die Ausrichtung auf eine soziale Lerngemeinschaft vermittelt.“

Lehrkräfte sollen Heranwachsende demnach als gleichwertiges Gegenüber anerkennen – mit der nötigen Struktur auf der einen und möglichst viel Autonomie auf der anderen Seite. Ergänzend sollen kooperative, kollaborative Lernformen die Fähigkeit der Schüler*innen zur Teamarbeit stärken. Dafür sollten Schulen so die Autor*innen über die Curricula die „notwendige Flexibilität für variable Lehr-Lern-Arrangements erhalten“. Ebenso brauche es schulische Konzepte für „die zeitliche Rhythmisierung, die adaptive Zusammensetzung von Lerngruppen und die flexible Raumnutzung“.

Für mehr Multiprofessionalität

Um allen Schülerinnen und Schülern bestmögliche Entwicklungsbedingungen zu bieten, fordern die Empfehlungen eine enge Zusammenarbeit verschiedener Professionen: Multiprofessionelle Expertise solle zum bestmöglichen Nutzen der Kinder und Jugendlichen mobilisiert werden. Kooperationen mit beispielsweise Psychologinnen, Sozialarbeitern oder Lern- und Bewegungstherapeut:innen ermöglichten einen umfassenden, multiperspektivischen und multiprofessionellen Blick auf Kinder und Jugendliche. Dafür brauche es nicht nur entsprechende Ressourcen, sondern auch rechtliche Grundlagen.

Darüber hinaus heben die Autor*innen die Bedeutung der Bildungsbiografie vor dem Schuleintritt hervor: Eine stärkere Verzahnung von Elementar- und Primarbereich sei notwendig, um Lernvoraussetzungen frühzeitig zu fördern. Denn die Basis für schulischen Kompetenzerwerb entstehe bereits vor Eintritt in die Schule.

Prüfungen als Lerngelegenheiten – nicht als Abschluss

Die für die Lernkultur gewünschten Änderungen haben auch Folgen für die Prüfungskultur; schließlich seien, so die Expert*innen, Lern- und Prüfungskultur „unmittelbar miteinander verschränkt“. Statt Selektion soll der individuelle Lernprozess im Mittelpunkt stehen. Der Kerngedanke: Prüfungen sollen nicht mehr primär selektieren, sondern das Lernen begleiten. Kinder und Jugendliche sollen schulische Prüfungen etwa als kohärenten Teil der eigenen Lernentwicklung erleben.

Die Autor*innen fordern die Bildungsministerien daher auf, die Prüfungsordnungen entsprechend weiterzuentwickeln. Das Ziel: Prüfungen sollen „weniger dem formalisierten Nachweis curricular festgeschriebener Lernziele dienen als vielmehr der Dokumentation des individuellen Lernfortschritts.“ Entsprechend rät das Gremium auch neue Prüfungsmodalitäten zuzulassen wie kooperativ erbrachte Prüfungsleistungen. Dies erfordere eine grundlegende Umgestaltung der Prüfungsmodalitäten. Neben klassischen Leistungsnachweisen sollen kooperative Prüfungen sowie alternative Formen der Leistungsdokumentation etabliert werden.

Die eigene Entwicklung im Mittelpunkt

Darüber hinaus sollten sich Prüfungen verstärkt auf die kriteriale und die individuelle Bezugsnorm ausrichten. Heißt: Prüfungsergebnisse sollten Lernfortschritte aufzeigen und diese ins Verhältnis zu klaren Kompetenzerwartungen und zur individuellen Entwicklung setzen. Vermieden werden sollte ein Vergleich mit anderen Schüler*innen. Dieser verstärke „Prozesse der eigenen Abwertung, da der Vergleich nach oben das eigene Nichtkönnen betont“. Vor diesem Hintergrund wiederholt sich die Empfehlung an Lehrkräfte, auf geeignete Instrumente der Lernverlaufsdiagnostik zu setzen, „die ein lernbegleitendes Feedback zu bereits Erreichtem ebenso wie noch zu Lernendem ermöglichen“.

Prüfungen sollen dem Expertengremium folgend also weniger Momentaufnahmen und mehr Teil kontinuierlicher Feedbackprozesse sein. Für die Schulorganisation bedeutet das: Prüfungsordnungen müssen geöffnet, Zeugnissysteme überdacht, Versetzungsregelungen angepasst werden.

„Unsere Schüler:innen sind auf mutige Entscheidungen und Veränderungen angewiesen […], damit sie den Herausforderungen von heute und morgen gewachsen sind und diese erfolgreich bewältigen können“, erklären die Autor*innen abschließend. Mit ihren Empfehlungen wollen sie die Bildungsakteure auf allen Ebenen motivieren, Schule neu zu denken und sich für entsprechende Veränderungen einzusetzen. „Wir meinen: Es lohnt sich!“ News4teachers

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