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Verabschiedet sich Deutschland aus der Inklusion? Dutzende neue Förderschulen werden gebaut – trotz UN-Rüge

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DÜSSELDORF. Allein in Nordrhein-Westfalen sind 30 neue Förderschulen geplant, auch andere Bundesländer bauen aus. Betroffene Eltern und Menschenrechtler schlagen Alarm: Sie sehen in der Entwicklung einen klaren Bruch mit der UN-Behindertenrechtskonvention – und eine Rückkehr zu alten Sondersystemen. Verabschiedet sich Deutschland aus der schulischen Inklusion?

Gemeinsamer Unterricht ist in den meisten Bundesländern immer noch nicht die Regel – 16 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Die Liste der geplanten Schulen liest sich lang: In Bielefeld, Dortmund, Duisburg, Essen, Köln oder Wuppertal sollen neue Förderschulen entstehen – und das, obwohl seit Jahren Inklusion das bildungspolitische Ziel sein sollte. Der Verein mittendrin hat aktuell 30 Fälle dokumentiert, in denen Städte, Kreise oder Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen die konkrete Absicht bekundet haben, zusätzliche Förderschulen zu gründen oder dies sogar schon in ihren Schulentwicklungsplänen festgeschrieben haben.

Für die Elterninitiative ist das ein Skandal. „Dies sind eindeutige Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, die sofort gestoppt werden müssen“, sagt Eva-Maria Thoms, Vorsitzende von mittendrin e.V.. Sie weist darauf hin, dass die schwarz-grüne Landesregierung die inklusive Schulentwicklung seit Jahren schleifen lasse. „Seit nunmehr acht Jahren wird die inklusive Entwicklung der Schulen nicht mehr aktiv vorangetrieben. In der Folge hat in vielen Schulen der Elan nachgelassen, sich auf Schülerinnen und Schüler mit Behinderung einzustellen.“

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„Bisher sehen wir weitgehendes Nichtstun unter dem Vorwand, dass es ein vorgebliches Elternwahlrecht gebe“

Thoms kritisiert, dass Eltern häufig in Richtung Förderschule beraten werden – selbst dann, wenn sie sich eigentlich eine inklusive Beschulung für ihr Kind wünschen. Für sie ist das sogenannte Elternwahlrecht eine politische Ausrede: „Bisher sehen wir weitgehendes Nichtstun unter dem Vorwand, dass es ein vorgebliches Elternwahlrecht gebe. Dabei müsste erst einmal ein flächendeckendes Angebot an inklusiven Schulen in akzeptabler Qualität geschaffen werden, bevor man von einer ‚Wahl‘ sprechen könnte.“

Besonders gravierend ist für mittendrin, dass allein 18 der geplanten Schulen den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung haben. Thoms warnt: „Entweder werden immer mehr Schülerinnen und Schüler fälschlicherweise für kognitiv eingeschränkt erklärt und unzureichend beschult. Oder die Zahlen belegen einen medizinisch nicht erklärbaren stark steigenden Prozentsatz an Kindern mit Behinderung. Beides wäre ein gesellschaftlicher Skandal.“

Nordrhein-Westfalen steht mit dieser Entwicklung nicht allein. Auch in anderen Bundesländern werden neue Förderschulen eröffnet oder gebaut. In Bersenbrück und Bad Laer (Niedersachsen) zum Beispiel haben Förderschulen für Geistige Entwicklung gerade den Betrieb aufgenommen. Im Saarland entsteht für rund 20 Millionen Euro ein kompletter Neubau der Anne-Frank-Förderschule in Saarlouis. Offiziell wird dieser Ausbau mit dem Argument der „Planungssicherheit“ oder mit angeblich überfüllten Einrichtungen begründet. Kritiker sehen darin jedoch vor allem eines: die Verfestigung von Strukturen, die Kinder mit Behinderungen dauerhaft von ihren Altersgenossen trennen.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat diese Entwicklung bereits scharf kritisiert. In einer Stellungnahme Ende 2024 heißt es, dass der Neubau von Förderschulen „gegen grundlegende Rechte von Kindern mit Behinderungen“ verstoße. Catharina Hübner, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention, erklärte mit Blick auf die Situation in Berlin: „Wenn etwa in Neukölln, Marzahn und Steglitz-Zehlendorf neue Förderschulen gebaut werden sollen, wird nicht nur das Recht dieser Kinder auf inklusive Bildung und gemeinsames Lernen, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorgibt, missachtet. Auch das im Berliner Koalitionsvertrag enthaltene Bekenntnis zur UN-Behindertenrechtskonvention wird durch die Errichtung neuer Förderschulen zu reiner Rhetorik.“

„Die vergleichsweise gut ausgestatteten Sondereinrichtungen mit einer geringen Klassenfrequenz stellen sich für Eltern folglich als die bessere Alternative für ihr Kind dar“

Hübner kritisiert insbesondere, dass die Politik das Elternwahlrecht als Begründung vorschiebe: „Damit wird eine zentrale Steuerungsleistung für das Gelingen der schulischen Inklusion in die Hände von Erziehungsberechtigten gegeben. Dies läuft Artikel 24 UN-BRK zuwider, da die Aufrechterhaltung von Sonderstrukturen nicht durch das Elternwahlrecht begründet werden kann.“ Die Folge sei eine teure Doppelstruktur: „Die vergleichsweise gut ausgestatteten Sondereinrichtungen mit einer geringen Klassenfrequenz stellen sich für Eltern folglich als die bessere Alternative für ihr Kind dar. Das führt dazu, dass das Sonderschulwesen gestärkt und die Segregation von Schüler*innen mit Behinderungen zementiert wird.“

Bildungswissenschaftliche Studien belegten, dass die Beschulung in Förderschulen erhebliche Nachteile für die betroffenen Schülerinnen und Schüler bedeutet, „da sie nur den Beginn von lebenslangen Exklusionsketten markiert“. Schülerinnen verblieben auch nach der Schulzeit häufig in Sondersystemen wie Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. „Dies steht im Gegensatz zum Inklusionsprinzip der UN-Behindertenrechtskonvention. Durch den Abbau der Sondersysteme im schulischen Bereich zugunsten inklusiver Lösungen könnte der skizzierte Verlauf verhindert und Schülerinnen mit Behinderungen die Perspektive auf eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden“, meint Hübner.

Das Institut fordert deshalb eine konsequente Umsteuerung: multiprofessionelle Teams an Regelschulen, verbindliche Inklusionskonzepte mit Zeitplan und Ressourcen – und die langfristige Transformation der Förderschulen zu Unterstützungszentren ohne eigene Schüler, wie es Hamburg oder Bremen vorgemacht hätten.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist nicht irgendeine NGO: Sie ist vom Bundestag damit beauftragt, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu beobachten – und den Vereinten Nationen (UN) darüber zu berichten.

Schon vor zwei Jahren hatte der UN-Fachausschuss Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Damals hieß es im Prüfbericht: „Der Ausschuss ist besorgt über die mangelnde vollständige Umsetzung inklusiver Bildung im gesamten Bildungssystem, die Verbreitung von Sonderschulen und -klassen sowie die verschiedenen Hindernisse, denen Kinder mit Behinderungen und ihre Familien bei der Einschreibung und dem Abschluss eines Studiums an Regelschulen gegenüberstehen.“ Die Vereinten Nationen empfahlen einen umfassenden Plan für den Übergang von der Sonder- zur inklusiven Beschulung – mit klaren Verantwortlichkeiten, verbindlichen Zeitrahmen und ausreichenden Ressourcen. Doch der fehlt bis heute.

An der Situation hat sich alles in allem kaum etwas geändert. Es herrscht weitgehend Stillstand, sogar Rückschritt. Wurden laut KMK im Schuljahr 2009/2010, als die UN-Behindertenkonvention in Kraft trat, noch rund 388.000 Kinder und Jugendliche an Förderschulen in Deutschland unterrichtet, waren es 2023/24 insgesamt 344.000 – also gerade mal 11 Prozent weniger. In den vergangenen Jahren ist die Zahl sogar wieder angestiegen: Im Schuljahr 2019/20 besuchten 325.000 Schülerinnen und Schüler Förderschulen in Deutschland.

Ein Hoffnungsschimmer – oder doch nur ein Feigenblatt? Ein bisschen Inklusion findet sich immerhin in Saarlouis: Dort soll die neue Anne-Frank-Förderschule Teil eines gemeinsamen Campus mit der benachbarten Gemeinschaftsschule werden. Schülerinnen und Schüler beider Einrichtungen sollen nicht nur in derselben Mensa essen, sondern – hin und wieder – auch gemeinsame Unterrichtsstunden erleben. News4teachers

Die große Mehrheit der Lehrkräfte befürwortet (eigentlich) Inklusion – möchte aber Förderschulen erhalten

 

 

 

 

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