SCHWERIN. Während Bildungsministerien Handlungsleitfäden veröffentlichen, die beschreiben, wie Lehrkräfte Künstliche Intelligenz pädagogisch sinnvoll in den Unterricht einbinden sollen (so jetzt in Mecklenburg-Vorpommern), plaudert eine Oberstufenschülerin aus dem Nächkästchen – und beschreibt, wie der Alltag in den Klassenräumen längst aussieht: ChatGPT liefert Antworten. Und Lehrkräfte merken oft nichts.
Handy raus, Foto machen, ChatGPT fragen – fertig ist die Bio-Klausur! Was wie ein Albtraum für Lehrkräfte klingt, ist für viele Schülerinnen und Schüler längst Alltag. Eine 17-jährige Oberstufenschülerin beschreibt in einem Beitrag für das Deutsche Schulportal, wie Künstliche Intelligenz den Schulbetrieb verändert und wie leicht es ist, mit ihr durch Prüfungen zu kommen. Titel: “Spicken war gestern – heute scannt die KI die Klausur.”
“Wieder komplette Bioklausur mit Chat gemacht.” – Sätze wie dieser seien im Oberstufentrakt inzwischen normal, erzählt sie. “Mit Erstaunen erlebe ich einen Schulalltag, der für uns Schülerinnen und Schüler ohne künstliche Intelligenz kaum noch vorstellbar ist. Während ein Großteil unserer Lehrkräfte noch in der Einarbeitungsphase steckt, unsicher ist, wie man mit KI pädagogisch sinnvoll umgeht, oder diese bereits als persönlichen ‚Endgegner‘ auserkoren hat, gehört künstliche Intelligenz für uns längst dazu. In der Schule. In der Klausur. In den Hausaufgaben. In unseren Köpfen.”
Die Schülerin berichtet von Klausursituationen, in denen plötzlich das Klicken einer Handykamera durch den Raum hallt – obwohl Handys eigentlich abgegeben werden müssten. “Offenbar scheut sich der eine oder die andere nicht, ein Zweithandy mitzubringen oder einfach zum iPad zu greifen. Aber die Lehrer müssen das doch hören – tun sie in den meisten Fällen aber nicht.” Die Konsequenz: Wer mutig genug ist, riskiert wenig – und bekommt mit ChatGPT immerhin eine Note, die besser ist als ein “Mangelhaft”.
Die Schülerin beschreibt anschaulich, wie selbstverständlich ChatGPT inzwischen im Unterricht eingesetzt wird. Hausaufgaben, so sagt sie, würden “meist in der Pause per KI gelöst und ins Dokument kopiert”. Manche Mitschüler liehen sich sogar auf der Toilette von Jüngeren Handys, um schnell zu recherchieren.
“Ist das noch in irgendeiner Weise fair? Warum sollte man auf einmal, nur weil man den Mut hat, das Handy herauszuholen, eine mittelmäßige oder sogar gute Note bekommen? Gleichzeitig ist es schwer, eine funktionierende Lösung zu finden. Der Nachweis von KI-Nutzung ist fast unmöglich, und falsche Verdächtigungen verunsichern Lehrkräfte wie uns Schülerinnen und Schüler gleichermaßen.”
Zugleich schildert sie, dass KI auch Chancen bietet – wenn sie konstruktiv eingesetzt wird: “Das bloße Lösen von Hausaufgaben per KI bringt wenig Lerneffekt. Doch mit den passenden Prompts wie ‚Erkläre mir die Lösung der Aufgabe in Kindersprache‘ kann man vielleicht doch noch etwas von ChatGPT lernen.” Verbote seien ihrer Meinung nach kontraproduktiv: “Ein Verbot befeuert eher den Drang zur destruktiven Nutzung, was letztendlich allen Beteiligten schadet.”
“Bei Hausaufgaben und bei Hausarbeiten muss deutlich werden, wo die Eigenleistung der Schülerin oder des Schülers liegt und die Urheberschaft muss klar erkennbar sein”
Die Schilderungen der Schülerin zeigen, wie weit verbreitet und wie problematisch der Umgang mit KI an Schulen inzwischen ist. Das hat auch die Politik erkannt. In Mecklenburg-Vorpommern etwa hat Bildungsministerin Simone Oldenburg (Linke) nun einen Handlungsleitfaden für den KI-Einsatz im Unterricht vorgelegt. “Bei Hausaufgaben und bei Hausarbeiten muss deutlich werden, wo die Eigenleistung der Schülerin oder des Schülers liegt und die Urheberschaft muss klar erkennbar sein”, meint die ehemalige Schulleiterin.
Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Im Leitfaden heißt es dazu unmissverständlich: “Mithilfe einer generativen KI erstellte Produkte sind als solche schlechter erkennbar als kopierte Inhalte. Eine verlässliche Software, mit der sich KI-generierte Erzeugnisse erkennen und nachweisen lassen, gibt es derzeit nicht und wird es voraussichtlich auch zukünftig nicht geben.” Oldenburgs Lösung: Aufgabenstellungen müssten verändert werden, um sie weniger anfällig für KI-Lösungen zu machen – etwa, indem eigene Experimente, Datenerhebungen oder Umfragen einbezogen werden.
Der Leitfaden wird konkreter. Das Papier entfaltet auf vielen Seiten eine Art pädagogisches Konzept, wie Schule mit KI umgehen soll. Es fordert Aufgaben, die an individuelle Erfahrungen und praktische Erhebungen der Lernenden anknüpfen – etwa Umfragen, Experimente oder Projekte. Lehrkräfte sollen Lernprozesse stärker begleiten und durch mündliche Prüfungsformate absichern. Auch kreative und interaktive Formate wie Präsentationen, Podcasts oder künstlerische Arbeiten werden empfohlen, weil sie auf die persönliche Handschrift der Lernenden angewiesen sind.
Darüber hinaus wird betont, dass Unterricht stärker auf kritisches und kreatives Denken, auf interdisziplinäre Ansätze und auf soziale Kompetenzen ausgerichtet sein sollte. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur Produkte abgeben, sondern ihre Entscheidungen reflektieren, begründen und wiederholt überarbeiten – begleitet von kontinuierlichem Feedback der Lehrkräfte.
Auf technische Hilfe beim Enttarnen von unerlaubter Hilfe brauche sie nicht zu bauen. Immer wieder wird im Leitfaden festgehalten, dass eine technische Lösung zur Erkennung von KI-Texten nicht existiert und auch nicht in Sicht ist. Entscheidend bleibe daher die professionelle Erfahrung der Lehrkräfte, die in Gesprächen und Präsentationen einschätzen können, ob eine Leistung eigenständig erbracht wurde.
“Peinlich wird es erst dann, wenn ChatGPT die Frage falsch beantwortet hat und es jeder mitbekommt”
Dass es allerdings einen Gegensatz gibt zwischen Anspruch und Schulwirklichkeit, macht die Schülerin in ihrem Beitrag deutlich. Sie schildert, wie sie selbst KI in vielen Fächern nutzt – von Deutsch über Französisch bis Kunst. “Und, ganz ehrlich: Das tut fast jeder und jede bei uns. Und auch an anderen Schulen. In irgendeiner Form.”
Bei ihren Lehrerinnen und Lehrern erlebt sie allerdings, dass diese oftmals die Entwicklung nicht mitbekommen: „Etwa im Unterricht, wenn plötzlich Schülerinnen und Schüler, die sich sonst eher weniger beteiligt hatten oder weniger qualitative Beiträge geleistet haben, nahezu perfekte Antworten liefern – wohl das Ergebnis einer schnellen iPad-Recherche auf Fragen der Lehrkraft. Das sorgt teils für Neid oder Streit zwischen denjenigen, die dieses Verhalten unfair finden, und den anderen, die dies als ihre einzige Möglichkeit rechtfertigen – die ja sowieso jeder wahrnehmen kann –, das Schuljahr zu bestehen. Peinlich wird es erst dann, wenn ChatGPT die Frage falsch beantwortet hat und es jeder mitbekommt.”
Ihr Fazit: “KI ist da – und sie wird nicht verschwinden. Gerade deshalb brauchen alle Beteiligten, Schüler wie Lehrkräfte, einen reflektierten Umgang damit. Weniger Verbote und Panik, mehr Anleitung und Offenheit. Wir wachsen mit dieser Technologie auf und werden mit ihr leben, arbeiten und denken. Je früher wir lernen, sie verantwortungsvoll zu nutzen, desto eher kann sie in der Schule vom Tabuthema zum sinnvollen Werkzeug werden.” Ob Handreichungen allein Lehrkräften dabei helfen? Wohl kaum. News4teachers
Hier lässt sich der Handlungsleitfaden herunterladen.