BERLIN. Während Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche (CDU) fordert, dass „die Deutschen“ künftig länger arbeiten sollen, fliehen Lehrerinnen und Lehrer in Scharen aus dem Schuldienst, weil sie schlicht nicht mehr können. Eine kürzlich erschienene Studie zeigt: Auf zwei Lehrkräfte, die regulär in Rente oder Pension gehen, kommen mittlerweile fünf, die vorzeitig aufgeben. Überstunden, Dauerstress, zu große Klassen, mangelnde Unterstützung – wer unter solchen Bedingungen arbeitet, braucht keine Debatte über das Eintrittsalter in den Ruhestand. Meint jedenfalls die GEW.

Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche (CDU) hat klare Vorstellungen, was die Zukunft der Arbeit in Deutschland angeht. Unlängst erklärte sie: „Der demographische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen.“ Sie befand: „Es kann jedenfalls auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen.“
Ihr Appell: „Wir müssen mehr und länger arbeiten.“ Es gebe viele Beschäftigte in körperlich anstrengenden Berufen. Es gebe aber auch viele, die länger arbeiten wollten und könnten.
Realität im Schuldienst: Lehrkräfte flüchten reihenweise – aus Überlastung
Lehrkräfte (mit rund einer Million Beschäftigten an Schulen immerhin eine der größten Berufsgruppen in Deutschland) kann sie mit „wollen und können“ kaum meinen. An Deutschlands Schulen bietet sich ein anderes Bild: Lehrerinnen und Lehrer verlassen den Schuldienst immer häufiger vorzeitig – weil sie ihn schlicht nicht mehr aushalten.
Eine aktuelle Untersuchung des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) zeigt: Auf zwei Lehrkräfte, die regulär in Pension gehen, kommen mittlerweile fünf, die den Beruf vorzeitig verlassen (News4teachers berichtete). Studienautor Dr. Dieter Dohmen analysiert: „Wenn sich der Trend der letzten Jahre auch zukünftig fortsetzt, dann ist bald eine Relation von 1:3 zu erwarten.“
Die Ursachen sind offenkundig. Dohmen: „Wenn die Zahl bzw. der Anteil der vorzeitig aus dem Schuldienst in einem derart großen Umfang ansteigt, dann ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass der Schuldienst entweder an Attraktivität verliert oder die Belastung von vielen Lehrkräften als nicht mehr bzw. länger tragbar angesehen wird.“
40-Stunden-Woche? Für Lehrkräfte illusorisch
Kein Wunder: Die Realität in Schulen ist geprägt von Überstunden, Dauerstress und wachsenden Anforderungen. „Arbeitszeitstudien verweisen regelmäßig darauf, dass die tatsächliche Arbeitszeit von Lehrkräften gerade während der Unterrichtszeit deutlich über eine ‚reguläre‘ 40-Stunden-Woche hinausgeht“, so der Forscher. Der Schuldienst fordert physisch wie psychisch – etwa durch große Klassen, heterogene Schülergruppen, immer mehr sozialpädagogische Herausforderungen und zahlreiche außerunterrichtliche Aufgaben.
Dabei sind die Unterschiede zwischen den Bundesländern enorm: In Mecklenburg-Vorpommern liegt der Anteil dauerhaft ausscheidender Lehrkräfte seit langem bei rund 10 Prozent pro Jahr – Tendenz stabil hoch. Auch in Berlin und anderen ostdeutschen Ländern liegen die Werte bei über 6 Prozent. Nur Hamburg und Hessen erreichen noch Quoten von 3 Prozent – dort gehen viele immerhin noch regulär.
Gerade auch mit Blick auf den bereits bestehenden und sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten verstärkenden Lehrkräftemangel im deutschen seien Bildungspolitik und -ministerien gefordert, Maßnahmen zu ergreifen, die die von den Lehrkräften als sehr hoch empfundenen Belastungen verringern. „Dazu zählen u.a. veränderte Modi der Arbeitszeiterfassung bei Lehrkräften, Ausbau multiprofessioneller Teams etc.. Es wird aber auch über veränderte Formen der Klassenstrukturierung nachzudenken sein: Eine Klasse oder Lerngruppe mit mehreren Schüler:innen mit psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen kann nicht so groß sein wie eine Klasse ohne solche Schüler:innen. Alternativ könnte die ‘Bestückung’ mit Lehr- oder Begleitpersonen flexibilisiert werden.“
So wie bisher werde es angesichts der Entwicklung in keinem Fall weiterlaufen können: „Die bevorstehende gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation wie auch insbesondere der dauerhafte Lehrkräftemangel werden grundlegende Veränderungen in den Schulen und an den Lernformaten erfordern“, betont Dohmen.
Erschöpfung und Gratifikationskrise: Das zeigt eine Berliner Studie
Die Überlastung ist längst messbar – anhand der gesundheitlichen Folgen. Eine Berliner Sonderauswertung einer Studie der Universität Göttingen von Ende 2024 zeigt: Zwei Drittel der befragten Lehrkräfte arbeiten im roten Bereich (News4teachers berichtete). Besonders betroffen sind Grundschullehrkräfte. „Die Analyse zeigt, dass die Arbeitsbedingungen maßgeblich zu den Gesundheitsrisiken beitragen. Hoher Zeitdruck, Überstunden, große Klassen und ein Übermaß an außerunterrichtlichen Aufgaben führen zu einer erheblichen Belastung“, erklärt Studienleiter Frank Mußmann.
Die Zahlen der Untersuchung sprechen für sich:
- 44 Prozent der Lehrkräfte haben ein erhöhtes Gesundheitsrisiko.
- 23 Prozent ein deutlich erhöhtes Depressionsrisiko.
- 24 Prozent haben keine Zeit mehr für private Verpflichtungen.
- 30 Prozent erleben eine „Gratifikationskrise“ – also das Gefühl, dass Anstrengung und Anerkennung in keinem Verhältnis mehr stehen.
Die Berliner Lehrerin Caroline Muñoz del Rio brachte die Stimmung vieler Kolleg:innen bei der Vorstellung der Studie auf den Punkt: „Dass die Bedingungen sich in den letzten Jahren spürbar verschlechtert haben und keine Besserung in Sicht ist, nimmt uns Hoffnung und stellt eine zusätzliche mentale Belastung dar.“ Sie beschreibt den Alltag so: „Der nie endende Stress, die fehlende Unterstützung, das ständige Gefühl, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können – das alles macht viele von uns so müde. Dabei mögen die allermeisten von uns ihren Beruf eigentlich sehr gerne.“ Das Problem sei nicht nur ein persönliches: „Dass sich diese Situation auch negativ auf die Bildung der Kinder- und Jugendlichen auswirkt, müsste den Verantwortlichen bewusst sein.“
GEW: Der Schuldienst ist gesundheitsgefährdend – Politik muss endlich handeln
Die GEW fordert dringend Konsequenzen. Anne Albers, im Berliner Landesverband der Gewerkschaft zuständig für Beamten-, Angestellten- und Tarifpolitik, warnt: „Ständig Zeitdruck, zu große Klassen, digitaler Stress: Die Arbeit in unseren Schulen geht für Lehrkräfte auf Kosten der Gesundheit. Die Studienergebnisse sollten alarmieren. Dem Land werden sehr viele weitere Lehrkräfte verloren gehen, wenn sich an diesen gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen nicht schnell etwas ändert.“ Sie fordert: kleinere Klassen, mehr Personal für multiprofessionelle Teams, Korrektur- und Prüfungsentlastungen, funktionierende Digitalisierung, Entlastung bei den außerunterrichtlichen Aufgaben und eine rechtlich verpflichtende Arbeitszeiterfassung.
Katharina Reiche fordert längere Lebensarbeitszeiten, als ob das eine rein rechnerische Frage wäre. Doch gerade im Schuldienst zeigt sich: Es sind die Arbeitsbedingungen, die darüber entscheiden, wie lange Menschen durchhalten – nicht der demographische Wandel. News4teachers
Statistisches Landesamt: Lehrkräfte gehen immer früher in den Ruhestand
