BERLIN. Wer nicht Schulleitung werden will, hat im Lehrerberuf in Deutschland so gut wie keine Karriereoptionen – und entsprechend wenig Gestaltungsmöglichkeiten. Alternative Laufbahnen? Fehlanzeige. Bildungsforscher Prof. Marcus Pietsch warnt vor einem stagnierenden Berufsbild, das Motivation und Bindung zerstört. Laufbahncoachin Isabell Probst berichtet: „Ganz viele Lehrkräfte machen mit 27 den gleichen Job wie mit 67 – und das nagt.“ Manche ziehen dann vorher die Konsequenz.
Eigentlich hatte sie ihren Traumberuf gefunden. Schon als Kind wollte Hannah F. Lehrerin werden. Sie studierte, machte ihr Referendariat, unterrichtete am Gymnasium Englisch und Französisch – verbeamtet auf Lebenszeit. Doch was nach Sicherheit und Erfüllung klingt, wurde für sie zur Sackgasse. „Wenn man Wissen aufsaugt wie ein Schwamm, fühlt sich die Schule an wie eine Wüste“, sagt sie rückblickend gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). 2024 zog sie die Konsequenz: Kündigung, Neuanfang, Bewerbungsmarathon. Der „goldene Käfig“ des Beamtentums war für sie unerträglich geworden.
Inzwischen kommen auf eine altersbedingte Pensionierung 2,6 Kündigungen oder Frühverrentungen, Tendenz steigend
Die Geschichte von Hannah F. steht exemplarisch für eine Entwicklung, die Bildungsforschende seit Jahren beobachten: Immer mehr Lehrkräfte verlassen den Beruf vorzeitig – und zwar nicht erst kurz vor der Rente, sondern mitten im Berufsleben. Das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) hat errechnet, dass sich die Zahl der vorzeitigen Austritte seit 2015 mehr als verdoppelt hat. Inzwischen kommen auf eine altersbedingte Pensionierung 2,6 Kündigungen oder Frühverrentungen, Tendenz steigend.
Doch warum geben Menschen wie Hannah F., die einmal voller Idealismus gestartet sind, den sicheren Berufsweg auf? Isabell Probst, Laufbahncoachin und ehemalige Gymnasiallehrerin, kennt die Gründe. „An vorderster Stelle stehen Überlastung und Ressourcenmangel“, sagt sie laut RND-Bericht. „Viele haben das Gefühl, sie leisten schlechte Arbeit, weil sie im Alltag das nicht umsetzen können, was sie sich als Pädagogen einmal vorgestellt haben.“ Doch ein zweiter, mindestens ebenso gravierender Faktor sei die berufliche Stagnation: „Ganz viele Lehrkräfte machen mit 27 den gleichen Job wie mit 67. Es gibt wenig Möglichkeiten, sich in diesem Beruf zu verändern. Nicht jeder möchte Schulleitung werden – und oft bleibt dann nur Stillstand.“
Probst selbst hat den Schritt aus dem Schuldienst gewagt, weil sie das Klima im Lehrerzimmer nicht mehr aushielt. Heute begleitet sie andere beim Ausstieg. „Jeder Fall ist multifaktoriell“, sagt sie. „Aber die Mischung aus ständiger Überlastung und fehlender Entwicklungsperspektive spielt fast immer eine Rolle.“
“Alternative Karrierewege oder Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung? Meist Fehlanzeige! Das Berufsbild stagniert”
Wie eng diese beiden Dimensionen – Belastung und Stillstand – miteinander verflochten sind, beschreibt Marcus Pietsch, DFG-Heisenberg-Professor für Bildungsmanagement und Qualitätsentwicklung an der Leuphana Universität Lüneburg, in einem Gastbeitrag für die Zeit.
Pietsch betont zunächst die Überforderung als Hauptgrund vieler Ausstiege:„Lehrkräftemangel und Unterrichtsausfall gehören seit Langem zum Alltag in unseren Schulen. Mehr und mehr Lehrerinnen und Lehrer steigen aus dem Beruf aus, und viele junge Menschen brechen ihr Lehramtsstudium vorzeitig ab. Überforderung und enttäuschte Erwartungen gelten als die Hauptgründe für dieses frühzeitige Verlassen von Studium und Beruf.“
Doch Pietsch belässt es nicht bei dieser Diagnose. Er macht auf einen weiteren, bislang oft übersehenen Faktor aufmerksam – die berufliche Stagnation: „Ein weiterer Grund wird jedoch selten genannt: Der Lehrerberuf bietet nur wenige Entwicklungsperspektiven. Alternative Karrierewege oder Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung? Meist Fehlanzeige! Das Berufsbild stagniert. Was in anderen Professionen längst selbstverständlich ist – ein flexibles und dynamisches Karrieremodell –, existiert im Lehrerberuf nicht. Starre Hierarchien und mangelnde alternative Laufbahnen hemmen die Motivation und die langfristige Bindung ans System.“
Besonders problematisch sei, dass es in Deutschland nur zwei klassische Aufstiegsmöglichkeiten gebe – Schulleitung oder Bildungsverwaltung. „Beides grundsätzlich gute Optionen“, schreibt Pietsch, „aber das System bereitet darauf weder gezielt vor, noch ermöglicht es so einen Aufstieg flächendeckend.“ Gleichzeitig strebten viele Lehrkräfte diese Funktionen gar nicht an, weil sie sich in der Unterrichtsarbeit oder in der pädagogischen Weiterentwicklung verorteten. „Für all das gibt es bisher aber kaum sichtbare Karrierewege. Das bedeutet: Wer nicht führen will, kann sich beruflich kaum weiterentwickeln. Und wer es möchte, wird nicht systematisch auf diesen Weg vorbereitet.“
Dass es auch anders geht, zeigt für Pietsch der Blick ins Ausland. „In den Niederlanden erhalten Lehrkräfte gezielt Zeit und finanzielle Unterstützung für Weiterbildungen. So wird die Übernahme zusätzlicher Verantwortung sichtbar gemacht und honoriert“, führt er aus. „In Schweden wurden zusätzliche Karrierestufen für Lehrerinnen und Lehrer im Klassenzimmer geschaffen – mit klaren Kriterien, mehr Verantwortung und besserer Bezahlung.“ Singapur ermögliche neben der Schulleitungslaufbahn auch einen pädagogischen Aufstieg, „bei dem exzellente Lehrkräfte Unterricht weiterentwickeln und ihr Wissen als Leit- und Meisterlehrer weitergeben“. Und in Finnland seien Lehrkräfte eng eingebunden in Ausbildung, Forschung und Schulentwicklung – und könnten so sich selbst und das System kontinuierlich weiterentwickeln.
Für Deutschland folgert Pietsch: „Wer gute Bildung will, muss Entwicklung ermöglichen.“ Dafür brauche es erstens bundesweit abgestimmte Laufbahnmodelle, zweitens vielfältige und transparente Karrierewege mit Entwicklungsperspektiven, mehr Verantwortung, besserer Bezahlung und Anerkennung von Leistungen, und drittens Durchlässigkeit zwischen Rollen und Institutionen. „Lehrkräfte brauchen echte Entwicklungsperspektiven – denn wer anderen eine gute Zukunft ermöglichen soll, muss selbst eine haben.“
Dass Überlastung und fehlende Entwicklungschancen zwei Seiten derselben Medaille sind, zeigen auch die Ergebnisse des Deutschen Schulbarometers 2024. Auf den ersten Blick wirken sie positiv: Über 80 Prozent der Lehrkräfte sagen, sie seien mit ihrer Arbeit zufrieden. Doch ein genauerer Blick offenbart Brüche. Rund 30 Prozent geben an, dass sie den Beruf heute nicht mehr ergreifen würden.
Vor allem im Vergleich zwischen „normalen“ Lehrkräften und Schulleitungen wird deutlich: Wer Gestaltungsmöglichkeiten hat, ist zufriedener und weniger belastet. Schulleitungen berichten signifikant seltener von Erschöpfung und Zynismus. Anders gesagt: Je größer der Einfluss auf die eigene Arbeit, desto geringer die Burnout-Symptome. Lehrkräfte ohne Perspektiven erleben den Alltag dagegen häufig als zermürbend – gerade jüngere unter 40 fühlen sich besonders ausgebrannt.
Damit bestätigen die Daten, was sowohl Probst als auch Pietsch beobachten: Es sind nicht nur die alltäglichen Belastungen, die Lehrkräfte zermürben. Es ist auch das Gefühl, in einem System gefangen zu sein, das kaum Weiterentwicklung erlaubt.
„Nicht jeder möchte Schulleitung werden, und so tritt man jahrzehntelang auf der Stelle“
Im einem Interview mit dem SWR bestätigt Isabell Probst die Dynamik, die sie bei vielen ihrer Klientinnen und Klienten beobachtet: „Das, was am meisten auf der Seele brennt, ist die absolute Überlastung. Der Ressourcenmangel, der Stress, der sich durch den Alltag zieht.“ Viele Lehrkräfte hätten sich ihr Berufsleben anders vorgestellt, mit mehr pädagogischer Freiheit und Raum für eigene Ideen. „Aber im Alltag können sie das nicht verwirklichen. Sie sind einfach unzufrieden, weil sie das Gefühl haben: Ich leiste schlechte Arbeit.“
Neben dieser ständigen Überforderung nennt Probst die mangelnde Weiterentwicklung als zweiten zentralen Faktor. „Ganz viele Lehrkräfte machen mit 27 den gleichen Job wie mit 67 – und das nagt. Nicht jeder möchte Schulleitung werden, und so tritt man jahrzehntelang auf der Stelle.“ Besonders deutlich werde dies bei Lehrkräften mit kleinen Kindern. „Da entsteht eine Doppelbelastung: Beruf und Familie fordern gleichermaßen. In den Sommerferien kommt dann oft der Moment der Reflexion, wo manche feststellen: So möchte ich das nicht noch einmal durchmachen.“
Dabei sei die Angst vor dem Ausstieg groß – gerade bei Verbeamteten. „Von außen sieht man die formale Sicherheit: Pension, Krankheitsabsicherung, solide Bezahlung. Aber was viele feststellen, ist: Das ist nicht alles im Leben. Gesundheit, Beziehung, Familienleben – all das leidet massiv. Und irgendwann wiegt die Sicherheit die Belastung nicht mehr auf.“ Für Probst ist klar: Viele Lehrkräfte suchen genau deswegen nach Alternativen – und finden sie häufig im Projektmanagement, in der Beratung oder in selbstständigen Tätigkeiten. „Die allermeisten berichten mir, dass sich ihre Lebensqualität nach dem Wechsel massiv verbessert.“
Hannah F. hat diesen Schritt bereits hinter sich. Als sie ihren Antrag auf Entlassung aus dem Beamtenverhältnis abschickte, machte sie ein Selfie für ihre Familie – so stolz war sie. Heute baut sie ihre Selbstständigkeit als Coachin auf und bewirbt sich bei werteorientierten Beratungen. „Für mich war irgendwann der Moment gekommen, an dem ich dachte: Entweder ich springe jetzt und versuch’s – oder ich bleibe in der Schule und beschwere mich nicht mehr“, sagt sie. Love it, leave it or change it. F. sprang – und ist zufrieden mit ihrer Entscheidung. „Ich würde nicht ausschließen, dass ich irgendwann wieder in die Schule gehe. Aber gerade will ich mich in anderen, agileren Arbeitskontexten erleben.“ News4teachers
