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Noch vor kurzem herrschte Lehrermangel an Grundschulen – jetzt gibt’s zu viele: Grundschul-Lehrkräfte sollen wechseln

ERFURT. Jahrelang galt der Lehrkräftemangel an Grundschulen als eines der drängendsten Probleme im deutschen Bildungssystem. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) prognostizierte noch Anfang 2023 eine anhaltende Krise über zwei Jahrzehnte. Heute zeigt sich: Diese Annahmen geraten ins Wanken. In Thüringen werden Grundschullehrer inzwischen für weiterführende Schulen angeworben – ein Symptom für eine historische Wende.

Überangebot? Illustration: Shutterstock

Noch Anfang 2023 hatte die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) eine düstere Prognose abgegeben: „Das Problem des Lehrkräftemangels wird aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben.“ Empfohlen wurde damals ein Bündel drastischer Maßnahmen: Mehrarbeit für Lehrkräfte, Hybridunterricht, größere Klassen, eingeschränkte Teilzeit, Rückholaktionen von Pensionären. Kurz: Die Schulen sollten sich auf zwei Jahrzehnte der Knappheit einstellen. Vor allem die Grundschulen waren (und sind) vom Lehrkräftemangel betroffen.

Alles falsch? Zumindest für die Grundschulen scheint sich das Bild gerade zu drehen. Denn in Thüringen passiert derzeit etwas, das in den Prognosen der SWK noch undenkbar war – aus Mangel wird Überfluss.

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Warum sollen Grundschullehrer Lücken an Regelschulen füllen?

In Erfurt hat das Bildungsministerium ein bemerkenswertes Programm vorgestellt. Frisch ausgebildete Grundschullehrer sollen ab November nicht mehr ausschließlich an Grundschulen eingesetzt werden – sondern auch an Regelschulen, vor allem in den Klassenstufen fünf und sechs. 25 solcher Stellen sollen zunächst geschaffen werden.

Das Ziel ist klar: Während Regelschulen händeringend nach Personal suchen, sind die Grundschulen in Thüringen vergleichsweise gut ausgestattet. Bildungsminister Christian Tischner (CDU) erklärt: „Mit dem neuen Angebot schaffen wir für unsere Absolventinnen und Absolventen eine dauerhafte Perspektive an Regel- und Gemeinschaftsschulen.“

Der Anreiz für die jungen Lehrkräfte:

Bemerkenswert ist die Konstruktion des Programms: Die Pädagogen werden nicht für einige Jahre an Regelschulen abgeordnet – sondern gleich dauerhaft dorthin verbeamtet. Wer diesen Schritt geht, ist künftig Regelschullehrer, nicht mehr Grundschullehrer.

Eine Rückkehr wird damit schwierig. Denn nach Ablauf des Zuschlags müssten die Betroffenen eine Versetzung beantragen, die nur unter engen Voraussetzungen genehmigt würde. Mit anderen Worten: Wer einmal wechselt, bindet sich langfristig an die neue Schulart. Tischner betont: „Das beansprucht keine zusätzlichen Mittel, sorgt aber für Planungssicherheit und verbessert die Unterrichtsversorgung auf lange Sicht.“

Wie kommt es nun zu dieser Entwicklung, die den Warnungen der SWK zu widersprechen scheint? Die Ursache für die neue Entwicklung liegt in der Demografie. Besonders in Ostdeutschland sinkt die Zahl der Kinder rasant.

Deutlich zeigt sich der Wandel in Mecklenburg-Vorpommern: Wie die Landesregierung auf eine Parlamentarische Anfrage hin mitteilte, wird die Zahl der Schüler dort in den kommenden Jahren drastisch zurückgehen. Von derzeit rund 164.000 Kindern und Jugendlichen an allgemeinbildenden Schulen werden im Schuljahr 2040/41 voraussichtlich nur noch 128.400 übrig bleiben – ein Rückgang um fast 22 Prozent.

In den Grundschulen macht sich dieser Trend bereits bemerkbar: Von 14.616 Einschulungen im Sommer 2023 sollen es im Tiefpunktjahr 2030 nur noch 10.390 sein. Um kurzfristig trotzdem Unterrichtsausfälle zu verhindern, will das Land nun Grundschullehrkräfte in den weiterführenden Schulen der Klassen fünf und sechs einsetzen. „Bis zum Ende des Jahrzehntes wird ein sehr hoher Anteil an Lehrkräften aus der sogenannten Boomer-Generation den Schuldienst altersbedingt verlassen“, heißt es aus dem Bildungsministerium.

Wie wirkt sich der Einbruch der Geburtenrate auf Thüringen aus?

Auch in Thüringen zeigt sich, wie stark die demografische Entwicklung das Bildungssystem verändert. Kitas werden geschlossen, Stellen gestrichen oder auf Teilzeit umgestellt. So plant etwa Weimar den Abbau von 500 Kita-Plätzen, im Altenburger Land schließen gleich drei Einrichtungen, und der Saale-Holzland-Kreis erwartet bis 2026 rund 1.000 freie Plätze.

„Ja, Ostdeutschland hat ein Demografieproblem“, sagt Bildungsminister Christian Tischner. Die Gründe reichen bis in die Nachwendezeit zurück, als viele junge Menschen abwanderten oder sich aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheit gegen Kinder entschieden. Zwar hatte der Landtag mit einem verbesserten Personalschlüssel gegensteuern wollen, doch inzwischen stellt sich die Frage: Wird bald zu viel pädagogisches Personal da sein?

Was in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen beginnt, ist kein regionales Phänomen. Laut Prof. Klaus Klemm, Bildungsforscher und langjähriger Berater von Bildungsinstitutionen, wird es bis 2035 bundesweit rund ein Sechstel weniger Grundschüler geben als heute. „Schon in fünf Jahren wird es sechs Prozent weniger Grundschüler in Deutschland geben – bis 2035 sogar rund 16 Prozent weniger“, prognostiziert Klemm einem Bericht des „Handelsblatts” zufolge.

Der Grund: Seit 2022 ist die Geburtenrate in Deutschland deutlich eingebrochen – von 795.000 Geburten im Jahr 2021 auf schätzungsweise 674.000 im Jahr 2024. Die Gruppe der Kleinkinder zwischen null und drei Jahren schrumpft laut Klemm bis 2035 um 500.000 auf dann noch 1,72 Millionen. Die Zahl der Kita-Kinder im Alter von drei bis unter sechs Jahren sinkt um 530.000 auf 1,84 Millionen.

Noch nie ist die Geburtenrate hierzulande in einem derart kurzen Zeitraum so schnell zurückgegangen wie in den vergangenen Jahre. Das hat vor allem einen Grund: Etliche Paare stellen laut einer Umfrage Kinderwünsche zurück – aufgrund mangelnder Betreuungsmöglichkeiten.

Welche neuen Prognosen gibt es für die Grundschulen?

Eine im vergangenen Jahr vorgelegte Prognose der Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass bis 2035 rund 45.800 Lehrkräfte im Primarbereich mehr fertig ausgebildet sind als benötigt werden, um den Unterricht abzudecken. Den Berechnungen zufolge dürfte vielerorts bereits ab dem kommenden Schuljahr der lange herrschende Mangel an Grundschullehrerinnen und -lehrern überwunden sein, weil anders als noch 2023 mehr neue Lehrkräfte bereitstehen, als aus dem Beruf ausscheiden.

Mit ihrer Schätzung wich die Bertelsmann-Stiftung deutlich von der Ende 2023 vorgelegten Prognose der Kulturministerkonferenz (KMK) ab, die für das Jahr 2035 einen Überschuss von nur 6300 Absolventen im Primarbereich ermittelt hatte. Hintergrund sei vor allem eine Trendwende bei der demografischen Entwicklung, die sich in den KMK-Berechnungen noch nicht niederschlage: So sei der Rückgang der Geburten 2022 und 2023 um mehr als 100.000 deutlicher ausgefallen als in den statistischen Angaben der Länder vorausberechnet. Auch für die Folgejahre schrieben die Studienautoren der Bertelsmann-Stiftung – Klaus Klemm und Dirk Zorn – die nach unten korrigierten Schülerzahlen entsprechend fort.

Ganz neu ist dieses Phänomen nicht. Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren erlebte das deutsche Bildungssystem Wellen von Lehrermangel und -überschuss. Wenn Mangel herrschte, entschieden sich viele für ein Lehramtsstudium – nur um später in Zeiten des Überangebots keine Stelle zu finden.

Droht Junglehrkräften jetzt die Arbeitslosigkeit?

Ein rechnerisches Überangebot an Absolventen bedeute nicht notwendigerweise Arbeitslosigkeit für die Pädagogen, betonen auch die Bertelsmann-Studienautoren Klemm und Zorn. Vielmehr bekomme die Politik den Spielraum für Qualitätsverbesserungen, der heute noch fehle. So könnten die Lehrkräfte für den Ausbau der Ganztagsangebote genutzt werden oder um mehr Personal an Schulen in sozial schwierigen Lagen einzustellen, empfehlen die Experten. Außerdem schlagen sie vor, Grundschullehrer auch für den Einsatz in den fünften und sechsten Klassen weiterzubilden.

Klemm: „Mehr Personal, kleinere Gruppen, mehr Zeit für einzelne Kinder – das war lange eine Utopie. Jetzt wäre es realisierbar. Wenn wir es wollen.“ Aus seiner Sicht eine große Chance: „Wenn weniger Kinder betreut werden müssen, ergeben sich Freiräume für eine bessere individuelle Förderung – und damit die Chance, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg endlich zu schwächen.“ News4teachers / mit Material der dpa

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