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Studie: Zwei Drittel der Eltern wollen „beste Freunde“ ihrer Kinder sein – wie geht das mit dem Leistungsanspruch der Schule zusammen?

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LUDWIGSHAFEN. Eine neue Studie zeigt: Zwei Drittel der Eltern in Deutschland wollen „beste Freunde“ ihrer Kinder sein, mehr als die Hälfte bestraft Fehlverhalten nicht mehr – Psychologin Nina Grimm warnt vor den Folgen von Konfliktvermeidung und fehlender Frustrationserfahrung. Schulen werden so zum harten Gegenpol.

Beste Freunde. (Symbolfoto.) Foto: Shutterstock

„Viele Eltern wollen die beste Freundin oder der beste Freund ihres Kindes sein” – sagt die Freiburger Familienpsychologin Nina Grimm. Sie erklärt gegenüber der Pronova BKK: „Dahinter steckt die positive Absicht, die Beziehung in den Mittelpunkt zu stellen, Konflikte auf Augenhöhe zu lösen und eine echte Bindung aufzubauen. Aber die Absicht, ‚bester Freund‘ oder ‚beste Freundin‘ zu sein, hat aus familienpsychologischer Sicht einen schalen Beigeschmack namens Konfliktvermeidung. Dahinter steckt oft der Anspruch, dass alles immer im Konsens und in lieblicher Tonlage mit einem Lächeln auf den Lippen geschehen muss.“

Grimm betont dagegen: „Das ist ein überhöhter Anspruch. Es gehört zur Eltern-Job-Beschreibung dazu, dass wir manchmal Dinge tun und sagen müssen, auch wenn sie unseren Kindern nicht gefallen. Eltern sind Gefährten. Aber keine beste Freundin oder bester Freund.“

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Wie stark hat sich das Erziehungsverständnis verändert?

Die Mahnung hat einen Hintergrund: eine neue repräsentative Studie, die im Auftrag der Pronova BKK die gegenwärtigen Erziehungsstile in Deutschland untersucht – die Ergebnisse lassen keinen Zweifel daran, dass die Art und Weise, wie Mütter und Väter ihre Rolle verstehen, sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert hat. Die Studie „Familie und Erziehung 2025“, für die 2.000 Eltern mit Kindern unter 16 Jahren befragt wurden, dokumentiert eine deutliche Verschiebung: Weg von Autorität und Gehorsam, hin zu Dialog, Spaß und Harmonie.

Während 60 Prozent der Eltern ihre eigene Kindheit noch als autoritär geprägt beschreiben, setzen sie heute vor allem auf Mitsprache und Nähe. 53 Prozent legen Regeln gemeinsam mit ihren Kindern fest, nur 44 Prozent bestimmen noch allein. Auch Strafen sind rückläufig: Lediglich 45 Prozent ahnden Regelverstöße, während 52 Prozent sie zwar besprechen, aber ohne Konsequenzen lassen. Zugleich erfüllt fast ein Fünftel (20 Prozent) der Eltern nahezu alle Wünsche des Nachwuchses. Und: Zwei Drittel – darunter 72 Prozent der Väter und 60 Prozent der Mütter – möchten „beste Freunde“ ihrer Kinder sein.

Warum ist das problematisch?

Grimm hält dagegen: „Es gibt Momente, in denen wir als Eltern Entscheidungen treffen müssen, die dem Kind nicht gefallen – zum Beispiel, wenn wir einer Neunjährigen klar sagen, dass sie noch kein Smartphone bekommt, auch wenn sie deshalb richtig wütend wird. Als Eltern halten wir diese Wut aus und begleiten sie, weil wir einschätzen können, dass ein Smartphone ihrer Gehirnentwicklung gerade schadet. (…) Kinder sind gleichwertig. Aber nicht gleichberechtigt.“

Die Psychologin betont die Bedeutung von Frustrationserfahrungen: „Die Möglichkeit, buchstäblich auf die Nase zu fallen, sich auszuprobieren, zu scheitern und wieder aufzustehen – nur so lernen Kinder, nur so wachsen sie. Wenn wir ihnen das aus unserem eigenen Sicherheitsbedürfnis heraus vorenthalten, nehmen wir ihnen wichtige Entwicklungserfahrungen.“

Wird Erziehung heute zum „Wunschkonzert“?

41 Prozent der Eltern loben ihre Kinder besonders häufig – ein deutlich höherer Wert als in ihrer eigenen Kindheit, wo dies nur ein Drittel angaben. Gleichzeitig räumt jedes fünfte Elternteil (20 Prozent) ein, dem Kind fast alle Wünsche zu erfüllen. Grimm sieht darin ein Problem: „Die bedürfnis- und bindungsorientierte Erziehung trifft in der alltäglichen Praxis auf die Überzeugung, dass das Familienleben ein Wunschkonzert ist. (…) Dahinter steckt oft Unsicherheit oder die Angst vor dem nächsten Wutanfall.“

Die Folgen können gravierend sein: „Frustration und Grenzen sind wichtige emotionale Erfahrungen für eine gesunde Entwicklung. Das bedeutet nicht, dass wir das Kind alleine lassen. Es geht vielmehr darum, auch diese Erfahrungen zuzulassen und sie liebevoll zu begleiten, statt sie permanent zu vermeiden.“

Warum zählt Spaß mehr als Leistung?

Eindrucksvoll ist auch der Wandel bei den Wertvorstellungen. Laut Studie nennen 37 Prozent der Eltern „Spaß haben / Lebensfreude“ als besonders wichtigen Wert in der Erziehung, während nur 19 Prozent „Erfolg“ priorisieren – damit ist „Spaß haben“ etwa doppelt so häufig genannt wie „Erfolg“.

Grimm erklärt diesen Bruch mit der Vergangenheit: „Die heutige Elterngeneration wurde in einer Zeit sozialisiert, in der Aufmerksamkeit und Anerkennung oft an Leistung gekoppelt waren. (…) Dadurch ist bei vielen jungen Eltern ein gewisser emotionaler Mangel entstanden, den sie heute in der Erziehung der eigenen Kinder nicht nur kompensieren wollen. So wird der Fokus mehr auf Beziehung und Spaß statt auf Erfolg gesetzt.“

Doch Grimm warnt auch: „Wir sehen eine Zuspitzung individualistischer Tendenzen. Persönliche Erfüllung zählt heute mehr als beruflicher Erfolg. Doch leider werden die Menschen dadurch nicht unbedingt glücklicher. Die Zahl der psychischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen und Suchterkrankungen, steigt weiter. Das stimmt nachdenklich.“

Was bedeutet das für die Schule?

Hier zeigt sich eine Spannung zur schulischen Realität: Während Eltern zu Hause auf Harmonie setzen, fordert die Schule Leistung. Noten, Prüfungen und Erwartungen lassen sich nicht mit einem Wunschkonzert vereinbaren. Kinder, die keine Frustration kennen, geraten in Konflikt mit einem System, das Grenzen und Durchhaltevermögen verlangt.

Grimm fasst es so: „Kinder brauchen Führung und unsere Grenzen. Das heißt nicht, dass wir autoritär entwertend zensieren müssen. Sondern, dass wir ihnen vielmehr die Möglichkeit geben, in einem emotional sicheren und wertschätzenden Rahmen wichtige Erfahrungen zu machen.“

Wo liegen die Risiken der Überfürsorge?

Grimms differenziertes Fazit: „Auf der einen Seite erfahren Kinder viel Zuwendung, Aufmerksamkeit und eine enge Bindung – ein großes Plus. Auf der anderen Seite birgt das auch Risiken. Wenn Eltern sich zu sehr mit der Entwicklung ihres Kindes identifizieren, kann es leicht zu einem Überengagement kommen. Kinder haben dann weniger Raum für eigene Erfahrungen, Eltern geraten in eine Spirale der Selbstoptimierung. Der Selbstwert wird mitunter vom Verhalten des Kindes abgeleitet. Wenn das Kind auf offener Straße durchdreht oder sich gegenüber der Oma patzig verhält, wird das schnell als persönliches Scheitern empfunden. Das erhöht den Druck und erschwert einen konstruktiven Umgang mit vielen herausfordernden Alltagssituationen.“

Am Ende fällt der Appell eindeutig aus: „Eltern sind Gefährten. Sie begleiten ihre Kinder durch Höhen und Tiefen, geben Orientierung und Halt. Aber sie sind nicht die besten Freunde – und sollten es auch nicht sein. Denn Kinder brauchen Erwachsene, die Entscheidungen treffen, Emotionen aushalten und Grenzen setzen können.“

Idealisiertes Selbstbild: Sind Eltern wirklich immer Vorbilder?

Pikantes Nebenergebnis der Studie: Ungeachtet der Erziehungsstile idealisieren Eltern stark die eigenen Rollen. 84 Prozent der Väter und 77 Prozent der Mütter sind davon überzeugt, ihrer Vorbildfunktion immer gerecht zu werden. Grimm zeigt sich von diesen hohen Werten überrascht. Sie vermutet dahinter einen blinden Fleck: „Eltern weichen oft von dem ab, was wir unseren Kindern predigen: Wir knallen Türen, essen die ganze Chipstüte auf und schalten Netflix selten nach der ersten Folge ab. Das zuzugeben ist unangenehm. Also blendet unser System es lieber aus, um den eigenen Selbstwert zu schützen.“ News4teachers

Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen. 

Studie: Viele Eltern sind mit der Medienerziehung überfordert – Symptom bei Schülern: Desinteresse am Unterricht

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