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Tausende Lehrkräfte zwangsweise versetzt: Wie Abordnungen Unruhe in Schulen bringen – und Betroffene belasten

DÜSSELDORF. Abordnungen von Lehrkräften sorgen vielerorts für Unruhe – aktuell besonders in Sachsen und Nordrhein-Westfalen. Während Kultusministerien die Praxis angesichts der personellen Ungleichverteilung als unverzichtbar bezeichnen, warnen Gewerkschaften vor dem Auseinanderreißen von Kollegien und dem Verschieben von Problemen. Zwei Beispiele zeigen die Dramatik der Situation.

Umgesetzt. Illustration: Shutterstock

Brandis bei Leipzig. Für die Fünftklässler der Oberschule ist nicht nur der Schulstoff neu. Auch ihre Mathelehrerin Karolin in der Mühle ist erst seit kurzem hier – nicht aus freien Stücken, sondern weil sie von ihrer bisherigen Schule an die Oberschule abgeordnet wurde. Gemeinsam mit zwölf weiteren Kolleginnen und Kollegen verstärkt sie das Lehrerkollegium, das bislang hoffnungslos überlastet war. „Wir haben geplant und gesehen: Erstmals können wir den Unterricht abdecken“, sagt Schulleiterin Silvana Schmidt. Sie berichtet gegenüber dem MDR von Freudentränen im Kollegium.

Doch die Freude ist nicht ungeteilt. Für Karolin in der Mühle bedeutet die Abordnung einen abrupten Wechsel ins Unbekannte – neue Kollegen, neue Strukturen, neue Schüler. Andere wie die Leipziger Englischlehrerin Maike Böckenhoff stöhnen vor allem über den Arbeitsweg: Statt einer Viertelstunde mit dem Rad fährt sie nun täglich über eine Stunde mit Bus und Bahn. „Das ist ein Grund, warum ich die Abordnung nur ein halbes Jahr machen kann. Danach ist es mir nicht mehr möglich“, sagt sie.

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Sachsen: Rettung für Oberschulen, Belastung für Grundschulen und Gymnasien

Rund 3.000 Lehrkräfte hat Sachsens Kultusminister Conrad Clemens (CDU) zum neuen Schuljahr 2025/26 versetzen lassen – meist von Grundschulen und Gymnasien an die notorisch unterversorgten Oberschulen. Zwei Drittel der Abordnungen gehen aufs Land. Für die betroffenen Schulen bedeutet das einerseits Entlastung: In Brandis konnten nach langer Zeit alle Stunden abgedeckt werden.

Für andere Einrichtungen ist es jedoch ein herber Verlust. In Leisnig kämpften Eltern vergeblich gegen die Abordnung der Klassenlehrerin ihrer Kinder. „Die Abordnung ist wirksam geworden“, erklärte das Landesamt für Schule und Bildung (Lasub) laut MDR-Bericht lapidar. Proteste würden zwar gehört, aber am Ende müsse man handeln.

Die Bildungsgewerkschaft GEW kritisiert, dass das Problem damit lediglich verschoben werde. „Die Abordnungen wirken nur kurzfristig. Sie werden Lehrkräfte noch weiter belasten“, sagt der Landesvorsitzende Burkhard Naumann. Strukturen an den Stammschulen würden zerstört, Unterricht falle dort aus oder werde fachfremd erteilt.

NRW: Kettenabordnungen und Gerichtsurteile

Auch in Nordrhein-Westfalen gehören Abordnungen längst zum Alltag – und sorgen für Streit. Im Münsterland etwa wurden gleich drei von acht Klassenlehrerinnen einer Grundschule nach Gelsenkirchen geschickt, wie der WDR im Juni berichtete. Wer die Lücken stopfen soll, blieb zunächst unklar. Eltern protestierten, Kinder demonstrierten vor der Bezirksregierung.

Weil die Defizite im Ruhrgebiet so groß sind, kam es laut Bericht häufig zu Kettenabordnungen: Von einem Gymnasium geht eine Lehrkraft an eine Grundschule im Heimatkreis, von dort eine andere weiter in den besonders betroffenen Kreis Recklinghausen. „Bis zu drei Kollegien müssen verändert werden, um eine Lehrerstelle zu besetzen“, kritisiert die FDP-Bildungspolitikerin Franziska Müller-Rech. Lehrkräfte würden „wie Schachfiguren verschoben“.

Das Verwaltungsgericht Münster stoppte im vergangenen Jahr zwei solcher Fälle – wegen Ermessensfehlern bei der Auswahl (News4teachers berichtete). Ein Losverfahren sei kein zulässiges Kriterium, so die Richter. Daraufhin musste die Landesregierung die Regeln verschärfen: Schulen dürfen nicht mehr selbst Kolleginnen und Kollegen nominieren, sondern müssen alle grundsätzlich abordnungsfähigen Lehrkräfte melden. Die Entscheidung liegt nun ausschließlich bei den Bezirksregierungen.

Die GEW informiert: Wer nicht abgeordnet werden darf

Klarer geregelt ist inzwischen auch, wer von einer Abordnung verschont bleibt. Laut GEW NRW gilt: „Lehrkräfte mit Kindern bis zum vollendeten 12. Lebensjahr sowie Lehrkräfte, die Angehörige pflegen, dürfen nicht abgeordnet werden“. Auch Schwerbehinderte oder Gleichgestellte sind geschützt. Außerdem betont die GEW: „Freiwillige Meldungen haben Vorrang vor einer Abordnung gegen den Willen der Lehrkraft.“ Die Bezirksregierung müsse zudem „die privaten Lebensumstände angemessen berücksichtigen“.

Die GEW sieht in den Abordnungen „eine unkoordinierte Notmaßnahme“. Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) berichtet von „viel Frust“ in den Kollegien. Die Lücken würden verschoben, nicht geschlossen – und der Stress wachse auf allen Seiten. Zwar verweist NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) auf Fortschritte beim Kampf gegen den Lehrkräftemangel – die Zahl der unbesetzten Stellen sei immerhin auf 6.000 gesunken, mehr Studienplätze und Seiteneinstiege seien geschaffen worden. Doch Kritiker werfen ihr Konzeptlosigkeit vor. SPD-Bildungspolitikerin Dilek Engin urteilt mit Blick auf eine gleichmäßige und auskömmliche Unterrichtsversorgung: „Das ist ihr bisher nicht gelungen.“

Ein Kollegium zerreißt es

Am Ende bleiben zerrissene Kollegien – und persönliche Schicksale. Anja Niederhausen, Lehrerin aus Ochtrup, meldete sich freiwillig für zwei Jahre an eine Grundschule im Ruhrgebiet ab. Sie sagt gegenüber dem WDR, sie tue es aus Pflichtbewusstsein: „Als Beamtin empfinde ich es als meine Aufgabe, dort einzuspringen, wo Hilfe gebraucht wird.“

Doch der Schritt fällt ihr nicht leicht. Seit fast 20 Jahren unterrichtet sie am Gymnasium in Ochtrup, dort kennt sie alle Abläufe, ihre Kolleginnen und Kollegen, die Elternschaft und viele Familien über Generationen hinweg. Jetzt wird sie in einer völlig neuen Schulart arbeiten, an einer Grundschule in Datteln – mit jüngeren Kindern, anderen Lernmethoden und einem Kollegium, das sie erst kennenlernen muss. „Es ist ein Sprung ins kalte Wasser“, sagt sie.

Auch privat bringt die Abordnung Einschnitte. Täglich pendelt Niederhausen nun deutlich länger, Zeit für ihre eigene Familie bleibt weniger. Vor allem aber macht ihr der Gedanke Sorgen, wie ihr Weggang in Ochtrup verkraftet wird. Ihre Klasse musste neu verteilt werden, das Kollegium improvisiert. „Es ist mir wichtig, dass die Kinder nicht leiden – aber genau das passiert jetzt in Ochtrup“, sagt sie.

Für die Grundschule in Datteln hingegen ist ihr Kommen ein Gewinn: Endlich können wichtige Stunden gesichert werden, Eltern müssen nicht länger fürchten, dass ihre Kinder wochenlang ohne Deutsch- oder Matheunterricht bleiben. Niederhausen weiß das – und will sich bestmöglich einbringen. Doch das Gefühl bleibt, dass sie nur ein Pflaster auf eine offene Wunde klebt. „Es darf keine Dauerlösung sein“, sagt sie. „Sonst verlieren wir überall das Vertrauen.“

Die Bezirksregierung Münster beteuert unterdessen, die Situation mittlerweile besser im Griff zu haben. Es sei gelungen, alle Grundschulklassen an den insgesamt 405 Grundschulen im Regierungsbezirk mit einer Klassenleitung auszustatten – und: „Alle dafür erforderlichen Abordnungen sind einvernehmlich erfolgt.“ Auf sogenannte Kaskadenabordnungen sei verzichtet worden.

Dass allerdings Abordnungen auch künftig notwendig sein werden, daraus macht die Behörde keinen Hehl: „Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Bezirksregierung, überall im Regierungsbezirk für faire Bildungschancen zu sorgen. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit.“ News4teachers 

Weinende Kinder, weinende Lehrerinnen, protestierende Eltern: Zwei Versetzungen – mit Folgen

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